Mus und das Problem mit den Wellensittichen

Einsendung zum Wettbewerb "Schreiben mit allen Sinnen" von Hanna, 12 Jahre

Mus war schon immer eine sehr eigenartige Maus. Während die anderen Mäuse Käse aßen, knabberte Mus lieber an Vogelfutterkörnern. Sobald die anderen Mäuse mit ihrem Piepkonzert starteten, versuchte Mus zu zwitschern. Und sobald die anderen Mäuse auf Nahrungssuche über den Waldboden flitzten, kletterte Mus auf Äste, sprang herunter und versuchte zu fliegen. Aber versuchen zu fliegen ist eben was anderes als fliegen zu können, und so fiel er immer wieder wortwörtlich auf den Boden der Tatsachen zurück. Seine Artgenossen waren nicht gerade begeistert von Mus Verhalten. Woher hätten sie auch wissen sollen, das Mus so gerne ein Vogel sein wollte? Um genau zu sein ein Wellensittich.
Die Wellensittiche waren im Eichenwald die Könige. Wie gern hätte Mus sich ihnen angeschlossen.
Eines Tages lief Mus zur Wellensittichsiedlung. So wurde dieser Ort von den Einwohnern des Waldes genannt, denn dort hatten die Wellensittiche ganz in der Nähe des Flusses ihre Nester gebaut. Als Mus so hoch über sich die ganzen Vogelnester sah, kam er sich ganz verloren vor. Er war so klein. Wie würde er dem Anführer der Wellensittiche bloß erklären können, dass er sich ihnen anschließen wollte? Und wo war er überhaupt? Keine Tierseele war weit und breit zu sehen. Mus wollte schon den Rückweg antreten, als plötzlich ein langer Schatten auf ihn fiel. Er sah nach oben und konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen, bevor Aves, der Anführer der Wellensittiche, genau auf der Stelle landete, wo Mus eben noch gestanden hatte. Aves folgten seine Untertanen, die sich hinter ihm aufstellten. Der Anführer der Wellensittich breitete die Flügel aus und blickte auf Mus herab, der mit weit aufgerissenen Augen zitternd vor ihm stand.
„Was willst du?“, zwitscherte Aves, während er Mus eingehend musterte.
„Ich … Ich möchte mich euch anschließen“, piepste Mus.
Die Wellensittiche brachen in schallendes Gelächter aus. Es war kein nettes Lachen. Als sie sich wieder beruhigt hatten, zeigte Aves mit seinem Flügel auf ihn.
„Wie heißt du?“
„Ich heiße Mus.“
„Was für ein Mus? Apfelmus? Erdbeermus? Pflaumenmus? Traubenmus?“
Die Wellensittiche brachen erneut in schallendes Gelächter aus.
„Es ist so“, begann Aves, „du kannst dich uns nicht anschließen.“
„Warum nicht?“.
„Weil wir Vögel schön warm sind. Ihr Mäuse dagegen seid ganz kalt. Du musst erst warm werden, um dich uns anzuschließen.“
Mit diesen Worten erhob er sich mit seinem Gefolge in die Lüfte. Mus sah ihnen sehnsüchtig nach und überlegte.
Wärmer werden? Kein Problem!
Mus kannte sich in der Umgebung aus und begann, nach einem großen Felsen zu suchen, um dem herum keine Bäume standen. Nachdem er einen solchen gefunden hatte, kletterte er hinauf und wartete.
Da es Sommer war, brannte die Sonne erbarmungslos auf die Erde nieder. Bald war Mus so warm geworden, dass er dachte, er würde gebraten werden. Schließlich kletterte er vom Felsen herunter und lief, so schnell er konnte, zu Aves und seinem Gefolge.
Sie pickten gerade Körner, als Mus angeflitzt kam.
„Seht nur, ich bin jetzt warm! Ich kann mich euch anschließen!“
Aves sah überrascht auf und strich mit seinem Flügel über Mus. Dann schien er zu überlegen.
„Du kannst dich uns trotzdem nicht anschließen“, stellte er fest. „Du musst uns beweisen, dass du hart bist.“
Mus nickte traurig und trippelte davon. Im Schatten der Bäume lief er entlang. Wie sollte er denn bloß härter werden?
Plötzlich hatte er eine Idee. Er suchte nach einem Nussbaum und fand schließlich einen, in der Nähe des Flusses. Vor ihm lagen Haufen von Nüssen. Mus nahm sich eine und drehte sie in seinen Händen. Sie war zu groß. Er warf sie in den Fluss und schnappte sich eine andere. Diese war zu klein. Er nahm sich immer mehr Nüsse und untersuchte sie, aber entweder waren sie zu groß, zu klein, zu zerfressen oder hatten einen Sprung in der Schale. Aber schließlich fand er eine perfekte Nuss. Jetzt brauchte er nur noch einen Stein. Davon gab es zwar reichlich viele im Wald, doch leider nicht spitze. Als er schließlich einen fand, versuchte er, die Nuss genau in der Mitte durchzutrennen. Er brauchte mehrere Versuche. Aber schließlich schaffte er es:  Eine perfekt gespaltete Nuss in der perfekten Größe. Er nahm sich etwas Ahornsirup und strich es auf die Walnussinnenseiten. Dann legte er die beiden Nusshälften an und drückte die Seiten aneinander. Ein klasse Panzer. Leider war es schon dunkle geworden. Aves schlief schon. Deshalb war er auch nicht sonderlich begeistert, als Mus ihn mitten in der Nacht weckte.
„Was ist?!“ brüllte er.
„Ich bin hart geworden“ rief Mus begeistert.
Aves schnaubte.
„Du weißt schon, dass ich das nicht wörtlich gemeint habe, oder?“
Aves zweifelte an Mus Intelligenz. Mus hingegen sah ihn verwirrt an.
„Kann ich mich nun euch anschließen?“
„Nein!“, brüllte Aves. „Du bist nicht blau. Erst wenn du blau bist, kannst du bei uns mitmachen. Und jetzt verdufte!“
Mürrisch erhob sich Aves in die Lüfte.
Mus schoss ein Gedanke durch den Kopf: Farbe! Wurde nicht hier ganz in der Nähe ein Haus gestrichen?
Mus lief los. Vor dem Haus am Waldrand waren viele Farbtöpfe zu einer Pyramide gestapelt. An einer klebten blaue Farbreste, genau das was Mus brauchte. Die Bauarbeiter schliefen auf der Bank neben dem Haus. Mus kletterte auf die Pyramide, Trotz seines geringen Gewichtes geriet diese ins Schwanken. Mus wurde panisch. Endlich stand Mus auf dem Deckel des blauen Farbtopfes, der als einziger geöffnet war. Mus sprang ohne zu überlegen hinein. Dadurch fiel der Turm nun endgültig um und ergoss sich samt Mus über den Bauarbeitern. Schreiend sprangen sie auf und Mus floh.
Minuten später stand er wieder vor Aves.
„Du kannst nicht bei uns mitmachen“, sagte er erneut. „Du musst dir das Piepen abgewöhnen.“
Da platzte Mus der Kragen.
„Ihr seid so blöd!“ „Warum sagt ihr denn nicht einfach, dass ich nicht mitmachen kann! Stattdessen macht ihr euch einen Spaß aus mir. Aber damit ist jetzt Schluss!“
Mus drehte sich um und schloss sich wenige Tage später einen Wanderzirkus an. Er wurde bekannt als Mus, die blaue, warme, harte, piepende Maus.

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Autorin / Autor: Hanna, 12 Jahre