Vom Nicht-Loslassen-Können

Über quälende Unruhe und die Frage, wie es weiter geht, wenn ein Projekt abgeschlossen ist.

*Unzufriedenheit*
Wenn meine Figuren mit Riesenschritten auf das Finale zusteuern, fragte ich mich bereits, welche Romanidee ich als nächste realisiere. Die, deren Plot steht, für die ich erst viele Geschichtsbücher wälzen muss und Stunden im Internet oder im Stadtbücherei-Archiv verbringen soll? Oder die, deren Plot erst ausgearbeitet werden muss, für die ich Naturfilme anschauen und Magazine durchblättern werde, und die – anders als meine bisherigen Manuskripte – Regeln wie Zeichensetzung, dramaturgischen Aufbau etc. immer wieder bewusst missachtet und mit der Sprache experimentiert? Mit dem nächsten Projekt im Hinterkopf hatte ich also mein, vor Monaten aktuelles, Manuskript beendet. Wie gewohnt wollte ich mir einen Monat Zeit geben, um Abstand zur geschriebenen Arbeit zu gewinnen, und dann mit der Überarbeitung beginnen.

Vor mir lagen nun vier Wochen. Na gut, bevor ich das nächste Projekt in Angriff nehme, dachte ich, überarbeite ich das erste Manuskript, dessen Fortsetzung ich eben fertiggestellt habe. Also legte ich los mit der – mittlerweile – zweiten Überarbeitung des ersten Manuskripts. Die Korrektur hatte ein paar Wochen in Anspruch genommen, aber keinen Monat. Wieder hatte ich zeitlichen Freiraum, den ich nach meinen Vorstellungen füllen konnte. Ich streifte durch Stadtbüchereien, las nach der Arbeit Bücher, traf mich mit Freunden und Kollegen und sah mir gute Filme an. Aber täglich begleitete mich dieses unangenehme Gefühl, das ich nicht verstand. Wieso bin ich unzufrieden, obwohl ich einen witzigen Abend mit Freunden verbracht habe? fragte ich mich. Warum tigere ich durch den Raum und fühle mich, als hätte ich heute nichts Sinnvolles geschafft, obwohl ich acht Stunden gearbeitet, gekocht und ein spannendes Buch zu Ende gelesen habe?

*Projekte*
Ich bin ein absoluter Projekt-Mensch. Es gibt Menschen, die brauchen kurzfristige Ziele. Andere wiederum längerfristige. Oder eben beides. Zu Letzteren zähle ich. Wenn ich in meiner Freizeit nicht an irgendetwas arbeite, wenn ich nicht etwas erschaffe, dann habe ich das Gefühl, dass ich die Tage verbringe, ohne mir Weichen für die Zukunft zu legen. Es kommt mir vor, als konsumierte ich, ohne zu produzieren. Mir macht es Spaß, etwas zu beginnen, von dem ich weiß, dass ich es innerhalb von Wochen oder Monaten abschließen werde.

Dieses zielorientierte Denken hat sich bei mir im Laufe der Jahre eingeschlichen. Zu meiner Schulzeit hatte ich klar umrissenen Eckpunkte: Ein Schuljahr fing an und endete mit den Zeugnissen. Als ich den Führerschein machte, gab es eindeutige Stationen, die zum Ziel führten: Theorie- und Praxisunterricht und die Abschlussprüfung. Am Ende des jeweiligen „Projekts“ hatte ich die Erlaubnis bekommen, z.B. studieren zu gehen oder Auto zu fahren. Während der Schulzeit verfasste ich Manuskripte. Wieder etwas mit einem Anfang und einem Ende. Jahr für Jahr. Das Studium war auch etwas, das zeitlich begrenzt war. Die Semester endeten mit Noten und das Studium mit einem akademischen Abschluss. Mein jetziges Tätigkeitsfeld, wovon ich meine Miete, meine Rechnungen und sonstige Kosten begleichen kann, beinhaltet im Grunde keine klar erkennbaren Abschnitte. Zumindest kommt es mir so vor. Also suche ich nach Projekten.

Im Frühjahr / Sommer 2014 habe ich mich als Mode-Designerin versucht. Das letzte Mal habe ich im Alter von 14 mit einer Nähmaschine genäht, seitdem nie wieder. Beim Stoffhändler meines Vertrauens habe ich so viele wundervolle Stoffe gefunden, dass ich prompt Ideen für Kleider und Oberteile hatte. Also habe ich mir eine Nähmaschine und viel Zubehör gekauft und angefangen, aus Dekostoffen Kleidung zu nähen. Learning by doing. Warum Dekostoffe? Ich finde sie besonders schön wegen der Glanzoptik oder ausgefallenen Mustern.

Natürlich habe ich mir Schnittmuster besorgt, diese allerdings so stark vereinfacht oder umgewandelt, dass ich meine Ideen realisieren konnte. In das Kleid mit Reißverschluss habe ich zwei Wochen, bzw. rund 22 Arbeitsstunden investiert; in das Messen, Vorzeichnen, Zuschneiden, Umkrempeln, Feststecken, Nähen und Auftrennen. Das Oberteil mit seitlichem Reißverschluss habe ich nach ca. 16 Stunden fertiggestellt.

Nähen ist ganz schön anstrengend, vor allem, wenn man mit Dekorationsstoffen arbeitet. Sie sind nicht dehnbar, oder flutschen gern aus der Hand wie z.B. der Tüll, den ich für meine farblichen Einsätze verwendet habe.

Da stellte sich das Backen als etwas einfacher und ergiebiger heraus. Da ich höchstens mal in der Schule beim Backen für den Weihnachtsbazar assistiert habe, kann ich behaupten, dass ich im Grunde nicht backen kann. Um dieses Defizit auszugleichen, nahm ich mir simple Rezepte und fing an zu backen. Erst mit meiner besten Freundin, später allein. Die Kuchen haben sich für mich als ein nettes Mini-Projekt herausgestellt. Das Backen macht Spaß und das Ergebnis schmeckt – je nach Rezept – ganz annehmbar oder besonders lecker. Ich liebe die Vorbereitung, auch wenn ich ordentlich danebenkleckere, und ich liebe es, dem Teig von Zeit zu Zeit beim Backen zuzusehen.

*Sehnsucht*
Nach der Korrekturarbeit sehnte ich mich nach etwas. Nach einer neuen Aufgabe vielleicht? Ich hätte ein Kleidungsstück nähen oder einen Kuchen backen können – Projekte, die sinnvoll sind und vielleicht sogar Anerkennung oder hoffentlich zufriedene Naschkatzen versprechen können. Und dennoch entschied ich mich gegen beides. Nach wie vor quälte mich innere Unruhe.

Erneut brodelte Unzufriedenheit in mir. Auf einmal hatte ich Lust, die Fortsetzung meines Manuskripts durchzulesen. Jene Fortsetzung, die ich vor ein paar Wochen beendet hatte, und die wiederum auf eine Fortsetzung, bzw. den letzten Teil wartet.

Eigentlich wollte ich nur lesen, ohne intensiv auf den Inhalt und die Sprache einzugehen. Doch kaum hatte ich losgelegt, fing ich an zu korrigieren. Und endlich stellte sich die innere Ruhe ein. Wie auch schon während des Schreibprozesses freute ich mich für meine Figuren oder litt mit ihnen. Das Gefühl lässt sich ein bisschen mit dem „Nach-Hause-Kommen“ vergleichen. Plötzlich war ich wieder von alten „Freunden“ umgeben, die mich ein paar Monate lang begleitet hatten, und folgte ihnen von Anfang bis zum Ende bei ihrem Abenteuer.

Ich habe von Autoren gelesen, die das große Finale hinauszögern. Das tun sie nicht etwa, weil es ihnen an Begeisterung für das Manuskript mangelt, oder weil sie nicht wissen, wie die Geschichte enden soll. Sie haben das Ende bereits im Kopf, sie wissen, wie ihre Protagonisten die Antagonisten besiegen werden, dennoch lassen sie sich Zeit. Das liegt meist daran, dass sie ihre Figuren noch nicht loslassen können.

Wenn die Figuren einem Autor zu sehr ans Herz gewachsen sind, will er ein Teil der fiktiven Welt bleiben, will sich weiterhin mit ihnen beschäftigen und mit ihnen durch Dick und Dünn gehen. Womöglich plant er deshalb bereits eine Fortsetzung. Ein anderer Autor wiederum, der sich nicht von bestimmten Figuren trennen möchte, schenkt jenen viel Raum in einem neuen Manuskript, um Abenteuer zu bestehen. Nebenfiguren, die dem Protagonisten (bzw. der Protagonistin) zur Seite gestanden haben, rücken nun in den Vordergrund. Sie erhalten die Möglichkeit, Herausforderungen zu meistern und sich zu beweisen, und geben dem Autor die Chance, ihre Gesellschaft ein wenig länger zu genießen.

Autorin / Autor: Carolina Hein - Stand: 2. Mai 2016