Traurige Kindheit

Eine Geschichte

Sorra blickte zur Seite. Der Wind durchfuhr ihr Haar und setzte einen Blick auf ihre rechte Gesichtshälfte frei, welche von einer Narbe überzogen wurde. Ein kleiner Strich, der für manche Menschen so unbedeutend aussah, wie als wäre er gar nicht da. Aber eben nur für einige Menschen. Sorra gehörte nicht dazu…

Es begann in einer kalten Novembernacht. Sorra erwartete ihren Vater, der jeden Freitagabend stockbetrunken aus der Kneipe nach Hause kam. Sorra wusste nicht, warum sie das tat. Vielleicht war es einfach eine Art Erinnerung, an alte Zeiten. Außerdem fürchtete Sorra die Schläge. Wenn sie schlafen würde, wäre es gewiss, dass der Vater sie prügeln würde. Wenn sie jedoch auf ihn wartete, den Tisch deckte und ihn bewirtete, so würde sein Zorn vielleicht milder werden. Sorra setzte sich auf den harten Eichholzstuhl und starrte auf die große Wanduhr. Die Sekunden schienen zu Minuten zu werden, die Minuten zu Stunden und Sorra merkte, wie ihr langsam die Augen zu fielen. Von dem ungleichmäßigem Rasseln im Türschloss wurde sie geweckt. Danach hörte sie einen Schlüssel im Türschloss. Ihr Vater war heim. Blitzschnell fuhr dieser Gedanke in Sorra’s Kopf und die Erinnerungen an ihren Vater spielten sich wie ein Film vor ihren Augen ab.

*Es war einmal anders...*
Sorra erinnerte sie als sie fünf oder sechs war. Ihr Vater holte sie jeden Freitagnachmittag vom Kindergarten ab und sie verbrachte das Wochenende bei ihm. Er brachte ihr Lollys, Waffeln und andere Süßigkeiten mit, eben all das, was Sorras Mutter verbot. Deshalb liebte Sorra diese Wochenenden. Sonst war sie immer bei ihrer Mutter, welche ihre schlechten Launen in Alkohol tränkte. Ihre Eltern waren nie verheiratet oder so. Die beiden waren auch nie verliebt. Sorra war eben einfach zufällig entstanden. Das hinderte ihren Vater anfangs jedoch nicht daran, sie nicht trotzdem als seine Tochter zu betrachten und für sie zu sorgen. Für Sorras Mutter war es eine Erleichterung gewesen, ihre Tochter für jedes Wochenende „loszuwerden“. Aber es blieb nicht lange eine Freude für Sorra, an den Wochenenden bei ihrem Vater zu sein. Denn auch er entdeckte seine Liebe zum Alkohol. Und irgendwann, an einem Sonntag, kam Sorras Mutter nicht mehr um sie abzuholen. Und da blieb Sorra eben einfach bei ihrem Vater. Je älter Sorra wurde, so mehr Schläge bekam sie auch, wenn er betrunken war. Inzwischen war sie 17. Durch einen grellen Aufschrei wurde Sorra aus ihren Träumen gerissen.

*Auswegslos?*
Es war die Stimme einer Frau, die in ihr Ohr drang. „Hey, bist du Sorra? Ich bin deine Tante. Sophie. Komm, ich hol dich hier raus…“, ehe Sorra sich versah, packte eine grobe starke Hand ihren Oberarm. „Nein…“, meinte Sorra leicht benebelt. „Wenn er kommt…dann schlägt er dich auch. Geh, ich komme schon so zurecht!“ Der Druck auf ihrem Arm wurde stärker. „Komm schon. Das Jugendamt hat mich verständigt! Ich bin die Schwester deiner Mutter.“, Sophie schob Sorra vor sich her. Das Jugendamt. Es war einige Male hier gewesen. Das letzte Mal war Sorras Vater wieder betrunken gewesen. Er hatte die Leute angebrüllt, verflucht und als sie weg waren, bekam Sorra Prügel. Es war nicht so wie immer. Es war voller Hass. Liebte sie ihn überhaupt noch so, wie einen Tochter ihren Vater lieben musste? Sorra war sich nicht mehr sicher. Ihr Vater hatte sie mit Stricken an ein Heizungsrohr gebunden und wie ein Wilder mit einem Gürtel auf sie eingeschlagen. „Meine Sachen!“, rief Sorra plötzlich erschrocken. „Oh ja! Wo ist dein Zimmer? Ich mach das schon…“, Sorra deutete mit dem Finger auf die schmale Tür. Nur ein paar Minuten später kam die Tante mit einem großen Rucksack wieder heraus. „Ist das wirklich alles, was du hast?“, fragte sie ungläubig. „Ja…“, flüsterte Sorra leise. Plötzlich durchfuhr ein lautes Poltern die Luft. Erschrocken fiel Sorras Blick auf die Tür. Ihr Vater trat ein. „Hey! Wo bist’e Sorra? Warum is’n hier kein Essen?“, ihr Vater kam torkelnd in den Raum. Sorra schob sich an ihm vorbei und lief zur Wohnungstür. Sophie folgte ihr. „Ich werde dich jetzt verlassen.“, erklärte Sorra und wollte schnell zur Tür hinausgehen. Doch ihr Vater hielt sie fest. „Das is’ nich dein Ernst?!“, seine Stimme erhob sich. „Doch.“, erklärte Sorra fest. „Nee. Du gehst nich. Du bleibst hier.“, mit schwingender Stimme ging er auf Sorra zu. „Lass mich los!“, schrie Sorra. „Okay.“, sagte ihr Vater leise und ließ Sorra los. „Hab dich nie gemocht. Warst immer ne’ Last für mich. Aber… du sollst etwas mitnehmen, was dich immer an mich erinnert. Ich zeig’s dir.“, damit schob er Sorra zum Wohnzimmer. Sie folgte ihm unwillig. Auch Sophie lugte neugierig ins Wohnzimmer. Plötzlich hob sich die Hand von Sorra’s Vater und in der Hand hielt er plötzlich Feuerhaken in der Hand. „Ich hab’s doch gesagt. Du kriegst was, das de dich immer an mich erinnerst. Hier!“, seine Stimme wurde zu einem zornigem Brüllen und mit einer blitzschnellen Bewegung sah Sorra den heißen Haken vor ihrem Gesicht. Sie musste geschrieen haben, denn Sophie hielt sich für einen kleinen Moment die Ohren zu. Dann schlug ihr Vater zu. Sorras Gesicht fühlte sich an, als hätte sie tausend Stecknadeln im Gesicht. Es brannte fürchterlich und Sorra taumelte zurück. Doch schon nach einigen Sekunden hatte sie ihre Gedanken wieder beisammen. Sie schnappte sich die Tasche und lief zur Tür hinaus. Einer neuen Zukunft entgegen…

*Eine andere Zukunft*
„Es ist Zeit, dass du ihn vergisst.“, eine ältere Frau legte Sorra den Arm um die Schulter. Ihr Blick lag auf der Zeitung, die Sorra in den Händen hielt. Verkehrsunfall, stand dort, Betrunkener raste gegen Baum. „Ich kann es nicht. Vielleicht wäre er jetzt noch am Leben, wenn ich nicht gegangen wäre…“, einen Träne rollte über die Narbe. „Du hättest nichts ändern können. Hier hast du eine Zukunft. Bald machst du dein Abitur und dann wirst du David heiraten und ihr werdet Kinder kriegen und…“, erklärte Sophie. „Ja. Aber ich werde ihn trotz allem nicht vergessen. Denn er war mein Vater, ob er nun gut zu mir war oder mich hasste…“

Autorin / Autor: brunneninweimar - Stand: 22. Januar 2004