Ende und Anfang
Eine Geschichte über eine Familie, die aus Lettland nach Deutschland zieht.
In den letzten 10 Jahren kamen immer wieder Ausländer nach Deutschland, und für jede einzelne Familie war es von irgendeiner Seite her schwer
Warum schreibe ich diese Geschichte?
Ich habe eine Geschichte geschrieben über eine Familie, die aus Lettland nach Deutschland zieht. Ich bin selbst aus Lettland und wohne seit fast zwei Jahren hier in Deutschland. Diese Geschichte handelt nicht direkt von meiner Familie, ist aber ähnlich. Die Gefühle sind auch ähnlich. Sie sind wahrscheinlich fast immer ähnlich, egal, aus welchem Land man wegzieht und wohin man geht. Ich weiß nicht, wieso ich es geschrieben habe, vielleicht aus dem Grund, damit Mädchen, die hier geboren sind, sich vorstellen können, wie schwer das ist. Vielleicht wollte ich mich auch selbst erinnern. Man kann das allerdings nie so beschreiben, wie man sich in der Zeit fühlt... wenn man alles verlassen und ein neues Leben anfangen muss... Ok, jetzt los. Ich habe das geschrieben - ihr werdet das lesen und müsst selbst für euch eine Bewertung finden.
Der Anfang
„Mädchen, setzt mal euch, ich wollte schon früher mit euch reden, aber ich wusste nicht wann, ich habe es hundert Mal verschoben, aber jetzt kann ich es nicht mehr verschieben, es ist schon zu spät. Ich werde nicht viel reden: Wir ziehen in zwei Monaten nach Deutschland, alle Dokumente sind schon fertig. Wir müssen nur unsere Sachen einpacken." Lena hat zuerst eine Minute gesessen und nichts gesagt, danach hat sie ihr Gesicht zu einer komischen Grimasse verzogen und hat gesagt „Ich muss denken “ und ist weinend in ihr Zimmer gelaufen. Marina – Lenas fünf Minuten ältere Schwester, saß noch eine Weile in der Küche und hat nur gefragt: „Mama, wieso?“, wollte aber keine Antwort hören und ist auch in ihr Zimmer gegangen. Mama ist alleine in der Küche geblieben und hat nachgedacht: „Mache ich das richtig?“ und „Wird alles klappen, wie ich das will?“. Sie hat sich ihre Fragen selbst beantwortet: „Ja, ich mache es richtig, hier in unserer Stadt haben sie keine Zukunft, aber in Deutschland - natürlich nur, wenn sie das wollen - können sie eine Zukunft haben, und zwar ´ne richtige Zukunft, auf die man warten und hoffen kann. Also, ich habe recht und ich werde das beweisen!"
Verabschiedung
Zwei Monate später. Die ganze Familie sitzt in der leeren Wohnung auf ihren Taschen. Sofas sind nicht mehr da, alles ist verkauft oder verschenkt. Marina und Lena wissen nicht, ob sie sich freuen oder weinen sollen. Sie waren noch nie im Ausland und sie können sich gar nicht vorstellen was und wie das ist. Sie fahren mit dem Auto, da ist fast kein Platz mehr. Überall sind Gepäckstücke und Koffer. Überall. Ohne Ende. Aber gleich. Da. Man kann schon den Hafen sehen. Schon sind sie da. Die Familie: Papa, Mama, Marina und Lena steigen langsam aus dem Auto aus. Sie fühlen schon, wie schwer das gleich werden wird, allen lieben nahen Verwandten und Freunden Tschüss zu sagen. Vielleicht sogar für immer. Viele Freunde sind schon da. Es kommen aber mehr und mehr Verwandte und Freunde. Klar - nicht alle konnten kommen, von vielen haben sie sich schon früher verabschiedet, viele sind auch im Urlaub. "Es ist doch Sommer" denkt Lena, "ich könnte jetzt am Strand liegen". Aber, ja. Ist schon gut. Zu Spät. “Alle Passagiere, bitte an Bord einsteigen, Abfahrt ist um 18 Uhr" sagt die Lautsprecher-Stimme. Marina guckt auf die Uhr: "17.35 Uhr“.
Die ganze Familie fängt an zu zittern, auch Papa. Er will das nur nicht zeigen. Tränen blitzen schon in den Augen. Es sind so viele Leute da und jeden will man umarmen, und jeder einzelne, der heute hierher gekommen ist, ist sehr wertvoll. Marina hat als erste angefangen zu weinen, dann Lena, dann Mama... Papa? Nein, Papa weint nicht, er lächelt, aber jeder weiß, dass es für ihn genauso schwer ist. Letzte Umarmungen, letzte Worte. „Wir werden schreiben, wir lieben euch" schreit jemand. Tränen. Erste Schritte auf dem Deck. „Vergeßt uns nicht“ schreit jemand. Nein, sie werden nicht vergessen, sie werden sich einfach immer seltener erinnern. Das Schiff macht seinen mächtigen Motor an. Letztes Schreien. Letzte Bewegungen mit den Armen. Das Schiff fängt an, sich zu entfernen. Es entfernt sich von den lieben und nahen Menschen, von der Stadt, in der du geboren bist, vom Kindergarten, von dort, wo du in die Schule gegangen bist, von der Stadt, in der du jede Kurve kennst, jedes Haus. Wo alles war: der erste Kuss, die erste Liebe, Glück und Unglück, gute und schlechte Zeiten, das Leben der Eltern, die Kindheit der Kinder. Und jetzt? Weg von diesem Leben. Weg von der Kindheit. Letzte Augenblicke, aber man kann fast nichts mehr sehen. Wegen den Fluss der Tränen. Alle Leute sind schon ganz klein... und... das Schiff geht in die Kurve, alle sind weg. Weg. So plötzlich ganz weg. So wie die Vergangenheit auf einmal weg ist... Nein, die Vergangenheit ist nicht weg, nur alles, was damit verbunden war, ist weg. Die Zukunft geht auch ziemlich schnell weg, bleibt kurz in der Gegenwart und dann für immer geht in die Vergangenheit. Die Familie erwartet ein neues Leben, aber noch ist das in der Zukunft. Sie weinen nicht mehr. Wieso muss man weinen. Man kann nicht mehr zurückkehren. Alles ist schon gemacht. "Guckt doch mal!!!!!! Küste!!!! Das ist doch Deutschland, wir sind in Kiel!" Was wird Deutschland uns bringen?
Autorin / Autor: Alissa Rabinowitsch - Stand: 30. März 2001