Es war kurz vor halb sieben und im Haus war es noch ruhig, alles schlief. Langsam wurde die Dunkelheit verdrängt, als das Zimmer zunächst in ein rötliches, dann ein immer heller werdendes Licht getaucht wurde. Die Lampen an der Zimmerdecke bereiteten Yan wie jeden Morgen einen künstlichen Sonnenaufgang. Yan blinzelte und schlug gähnend die Augen auf. Es war Montag, ein ganz normaler Werktag. Er stieg aus dem Bett und schleppte sich noch ermüdet ins Badezimmer, um sich fertig zu machen.
Nachdem er gefrühstückt hatte, machte er sich auf den Weg zur Arbeit. Seine Frau Dyana schlief noch, sie zählte zu den vielen Arbeitslosen in der Großstadt. In der Presse meinten sie immer, die Roboter würden die Welt verbessern, doch im Gegenteil: Sie ersetzten mehr und mehr Menschen, etliche verloren ihre Stellung, nur wenige hatten so ein Glück wie er, anders als vieler seiner Kollegen, Freunde, Bekannten und Verwandten. Zwar hatte sich bisher vieles in seinem Job geändert, aber immerhin hatte er ihn noch. Doch die Unternehmen fanden immer einen Grund, den Leuten zu kündigen und wenn das nicht wirkte, ekelten sie sie regelrecht heraus, sodass sie die Jobs von selbst aufgaben. Yan wusste, dass auch er irgendwann einen neuen Job brauchen würde, denn er brauchte das Geld um seine fünfköpfige Familie zu ernähren. Zwar waren die Arbeitslosengelder erhöht worden, aber es hatte auch einen enormen Preisanstieg gegeben. Geistesabwesend stieg er in seinen computergesteuerten Kleinwagen, der ihn zur Arbeit bringen würde.
„Zum Krankenhaus am Schillerkreuz!“, lautete der Befehl und das Auto setzte sich in Bewegung und glitt los. Die Fahrt dauerte nicht lange und nach zwanzig Minuten hielt der Wagen vor einem riesigen, sehr imposanten Gebäude, welches Platz für unvorstellbar viele Patienten hatte. Über dem Eingang prangte ein unübersehbares Schild, auf dem ein großes, rotes Kreuz zu sehen war, darunter noch eines, das Roboter abbildete. Der Schriftzug darauf las: „Jetzt total mechanisch. Eine noch bessere Pflege für unsere Patienten.“ Das Krankenhaus. Sein Arbeitsort. Er erklomm die Stufen zum Eingang und betrat das Gebäude. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Innen war alles weiß und es roch nach Desinfektionsmittel. Yan zog seinen Mantel aus und sein Arztkittel kam unter ihm zum Vorschein. Nun musste er sich aber gewaltig beeilen, ihm wurde ohnehin schon zu viel Arbeit zugewiesen, da fehlte es noch, dass er zusätzlich zu spät kam. Hastig ging er los um nach den Patienten zu sehen.
Nach und nach klapperte er die Zimmer ab, manchmal nicht wirklich gründlich, aber das musste sein, wenn er nach allen Kranken sehen sollte. Und das wiederum war nötig, wenn Yan nicht gefeuert werden wollte. Es lag an den Robotern, man verglich ihn zu sehr mit ihnen. Aber kein Mensch konnte so schnell und gleichzeitig so gründlich wie sie sein. Das war von vielen seiner Kollegen der Kündigungsgrund gewesen.
Er arbeitete schon lange im Krankenhaus, es hatte ihm damals sogar Spaß und Freude bereitet, sich um all die kranken Patienten zu kümmern. Doch dann kam es, in Schritten, zuerst kaum merklich, dann verschlimmerte es sich jedoch und stetig wurden mehr und mehr Mitarbeiter durch Roboter ersetzt.
Es war bereits um die Mittagszeit, doch Yan hörte nicht auf zu arbeiten, er hatte zu wenig Zeit. Er machte nie eine Mittagspause.
Wie mechanisch öffnete er Tür für Tür, schaute hinein ohne richtig hinzusehen, verteilte Medikamente und schloss sie wieder. Er wurde immer unkonzentrierter, es mangelte ihm an Essen. Doch er musste durchhalten.
Yan ging weiter den Gang entlang und öffnete erneut eine Tür. Er betrat das Zimmer einer alten Dame, die in einem Bett mit weißem Bettbezug lag, dass in der Ecke des Raumes stand. Sie schlief. Eilig griff er nach den Tabletten und leerte ein paar in einen Becher, den er anschließend mit Wasser füllte. Unsanft weckte er die Frau und schob ihn ihr in die Hand. Sie setzte ihn an ihre Lippen und trank den Inhalt aus. Yan kam es wie eine Ewigkeit vor. Seine Gedanken schweiften ab.
Bald würde nicht mehr er sich um die Patienten kümmern, bald würde irgendein programmiertes Wesen hier an seiner Stelle stehen. Roboter arbeiteten nun mal präziser als Menschen. Aber wenn es mit den Jobs weiterhin in Richtung Abgrund gehen würde, so wie in den letzten Jahren, dann wären sie irgendwann vielleicht völlig von Robotern übernommen sein…
Tief in Gedanken versunken nahm er eine Flasche mit Medizin und begann den Inhalt in einen Messbecher zu füllen. Braune Brühe floss hinein. Yan merkte nicht, dass er die Dosierung für die magere Frau überschritt…
Erneut drückte er der Patientin den Becher in die Hand. Herzlos. Wie mechanisch. Wie ein Roboter.
Sie begann zu trinken. Und dann war es, als erwache er aus einer Trance.
„Stopp!“, schrie er, die ersten Worte, die er zu ihr sprach. Doch es war bereits zu spät: Der Messbecher war leer.
Mit hängendem Kopf verließ Yan an diesem Abend das Krankenhaus. Innerhalb der nächsten Stunde würde er gefeuert sein. Nach Feierabend kontrollierten Roboter immer die Medikamente und ihnen würde schnell auffallen, dass die Menge nicht stimmte. Wieso hatte er denn auch nicht besser aufgepasst? Wie konnte ihm denn so ein Fehler unterlaufen sein?
Yan lag im Bett und dachte nach. Er hatte noch an diesem Abend einen Anruf vom Krankenhaus erhalten. Er war gefeuert. Nun brauchte er einen neuen Job. Doch welchen?
Er hatte keine Ahnung…
Yan dachte an seinen alten Job, wie er die Zimmer wie mechanisch abgeklappert hatte. Wie mechanisch. Manchmal kam er sich selbst wie ein Roboter vor… Doch der Unterschied war, dass Roboter schneller und genauer arbeiteten. Was die Patienten aber wirklich brauchten, war Liebe. Und nur Menschen konnten Liebe aufbringen. Aber das wenige menschliche Personal war zu sehr unter Zeitstress, um sie zu zeigen, so wie er selbst…
Und so könnte genauso gut auch er ein Roboter sein…
Mit diesen Gedanken begab sich Yan in einen unruhigen Schlaf.