Alles, was du brauchst

Beitrag von Lara Kickner, 19 Jahre

Leere. Da ist nichts als Leere in deinem Kopf. Du starrst die Wand an. All die Bildschirme… Sie füllen dein gesamtes Blickfeld aus. Ein Meer aus Drähten und Kabeln. Wie leicht könntest du davon wohl verschluckt werden, darin ertrinken?
Langsam versuchst du einen Gedanken zu formen. Er steigt in deinem Kopf auf wie eine Drohne: Lautlos, übermächtig, schwer greifbar.
Ehe du ihn zu fassen bekommst, blinkt vor dir einer der Bildschirme auf. Grün. Die Farbe für „Hunger“. Du hast noch nichts gegessen. Als erwachsener Mann solltest du heute noch etwa 2500 Kalorien zu dir nehmen.
Nahrung. War es das, woran du gerade denken wolltest? Ist es das, was du gerade brauchst?
Natürlich. Wir wissen alles., murmeln die Computer.
Aber…
Der Chip hinter deinem Ohr vibriert protestierend. Zu hoher Puls. Lenk dich ab.
„Cole2 – Arbeit.“, denkst du und schließt die Augen. Als du sie wieder öffnest, hat das Zimmer die gewohnte Laboroptik angenommen und das Foto eines Mädchens prangt auf all deinen Monitoren. Die Luft ist erfüllt vom salzigen Geruch einer frischen Meeresbrise, duftet nach Lavendelfeldern und Zimt. Das steigert deine Leistungsbereitschaft um 78 Prozent.
Deine heutige Kundin hat grasgrüne Augen, die sich nie sattsehen an der Welt, die voller Abenteuerlust funkeln. Sommersprossen tanzen ihr über die Wangen und ihre Haare stehen ihr in wilden Locken vom Kopf ab. Sie ist wunderschön. Das ist es, was du siehst.
Aber wir sehen besser.
Innerhalb einer einzigen Millisekunde taucht ein Plan auf deinem Netzhautdisplay auf. Was du da betrachtest ist das Mädchen, deine Kundin. Und doch auch wieder nicht. Du hältst die Luft an… und beginnst:
Deine Finger verändern zuerst ihre Haarfarbe, dann die Struktur und die Länge. Als nächstes lässt du ihre Wimpern dichter werden. Ihre Iris… Die helle Farbe wird allmählich von einem dunklen Blau verschluckt. Als letztes löscht du die kleinen Unreinheiten und Sommersprossen aus ihrem Gesicht. Die Frau, die dir nun entgegenstrahlt ist perfekt.
Und das ist alles, was erstrebenswert ist…
…sagen sie.
Du drehst den Kopf als du den tastenden Blick von Cole2 in deinem Rücken spürst. Dein Roboter ist ein Wunder, denn er sieht genauso aus wie ER.
ER hieß doch auch Cole, richtig?
Das steht doch auf seinem Grabstein?
Natürlich, summen die Stimmen in deinem Gehirn, kreischen die Computer. Natürlich.
Wenn sie es sagen, stimmt es, richtig? Sie wissen alles.
Cole2 spielt eine leise Melodie. Töne, die dich beruhigen, die perfekt für dich sind. Denn du bist lediglich ein Körper mit Bedürfnissen, oder?
Während du lauschst, betrachtest du deinen Roboter, Cole2. Seine makellose Haut. Seine glatten, schwarzen Haare.
Du denkst wieder an deine Kundin von vorhin. An ihre wunderschönen Sommersprossen. An ihre etwas zu kleine Nase… und plötzlich siehst du nicht mehr diese Frau.
Du siehst Cole. Deinen Cole. Deinen toten Freund. Mit einem Lachen, das viel zu laut war für diese stille, mechanische Welt. Einer Stimme, so rau wie Sandpapier. Einem Körper, einer Seele, die alles war, was du je gewollt und je gebraucht hast.
Nur eines war Cole nicht:
Perfekt.
Hey. Deine Vitalwerte. Denk an etwas anderes.
Du schüttelst den Kopf. Nein. Du kannst nicht. Da ist nur noch ER in all seinen wunderbaren Facetten. Der Roboter gleicht ihm kein bisschen. Wie konnte diese Gestalt aus Kabeln und Drähten für dich je aussehen wie der wahre Cole? Cole, der immer so voller Leben war?
Du schadest dir selbst.
Und… dein Freund… Er hieß doch gar nicht Cole, oder?
Hör uns zu.
Phil.
Er hieß Phil.
Du kneifst die Augen zusammen, blendest deine beißenden Kopfschmerzen aus, ignorierst den wummernden Chip.
Wie ist er gestorben?
Das ist nicht von Bedeutung.
Du erinnerst dich nicht. Wieso nicht?
Frag uns., flüstern die Wände, die Augen, die Monitore. Wir wissen alles.
Deine Hände verharren zitternd mitten in der Bewegung.
Phil hatte diese Aktion. Er war gegen die Digitalisierung. Er…
Was grämst du dich so? Es ist doch ganz leicht. Wir helfen dir…
Du hast damals auch unterschrieben.
Du regst dich auf. Das ist nicht gut für dich. Hör auf.
Oh Gott. Oh mein Gott.
Die Geräusche um dich herum werden immer lauter. Monitore flackern auf.
An – aus. An - aus.
Es war Mord. Er wurde umgebracht.
Stop.
Die Computer säuseln dieses Wort. Es ist kaum lauter als dein Herzschlag. Cole2 kommt auf dich zu, er lächelt, ruft das Bild des nächsten Kunden auf. Er verändert ihn ohne deine Hilfe, ersetzt dich und deine Arbeit. Du willst das nicht. Du... Deine Augenlider sind so schwer. Wenn du dich nur ganz kurz ausruhst…
Still fliegen auf deinem Netzhautdisplay die neusten Social Media-Beiträge vorbei.
Als du die Welt wieder wahrnimmst, ist da Musik. Sie summt leise Töne, die perfekt für dich sind. Ein wunderschönes Webmuster aus Noten. Cole2 nähert sich dir. Er sieht genau aus wie dein Freund – Cole - der bei diesem tragischen Unfall vor zwei Jahren ums Leben gekommen ist.
Gut, dass du das weißt. Gut, dass SIE das wissen.
Denn die Computer sind perfekt. Und das ist schließlich das einzig Erstrebenswerte.

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Autorin / Autor: Lara Kickner