Prypjat, Ukraine. 26.4.1986 1:19 Uhr Nachts
Ich schlug meine Augen auf. Es war mitten in der Nacht. Neben mir hörte ich meine jüngere Schwester seelenruhig schlafen. Ihre rhythmischen Atemzüge füllten die Leere des Raumes. Ich ließ meinen Blick zum kleinen Fenster wandern, welches gekippt war. Vor dem Fenster bewegten sich wie tanzende Geister die Bäume. Wenn man sich anstrengte, konnte man in weiter Ferne das Atomkraftwerk von Tschernobyl ausmachen. Da diese Nacht besonders wolkenlos und klar war, konnte ich das gigantische Werk von hier erkennen. Wie ein riesiger Pilz thronte es am Horizont. Ich schloss meine übermüdeten Augenlider wieder, als ich einen ohrenbetäubenden Knall vernahm. Der Raum erhellte sich für einen Wimpernschlag, dann war es wieder stockduster. Ich lief zum Fenster und blickte in die Ferne. Ich hörte, wie sich die Tür geräuschvoll öffnete und meine Eltern zu mir und meiner Schwester ins Zimmer stürmten. Meine Schwester hatte ihren Bären in der Hand und fragte mit zitternder Stimme: „Greift uns der Westen an?“ „Nein, das war etwas anderes“ hörte ich die ebenfalls zitternde Stimme meiner Mutter. „Etwas viel Gewaltigeres“ fügte mein Vater mit belegter Stimme hinzu. Eine Weile sagte niemand etwas. Wir alle standen am Fenster und blickten in Richtung Atomkraftwerk. Meine Mutter hatte sich mit Händen und Füßen gewehrt, hier hin zu ziehen, aber mein Vater arbeitete am Atomkraftwerk Tschernobyl, und so zogen wir aus Kiew nach Prypjat. „Ich glaube“ stellte mein Vater nüchtern fest, “ss ist etwas mit dem Werk passiert.“ „Ach“ fauchte meine Mutter, so als sei es allein seine Schuld. „Ich schlage vor“, meinte mein Vater versöhnlich, „wir schauen morgen weiter. Also ab zurück in die Betten." Meine Eltern verließen das Zimmer und schlossen die Tür. Ich sah, dass meine Schwester bereits wieder im Bett lag. Ich schaute noch ein letztes Mal an den Horizont, sah aber nicht das riesige Kraftwerk. Ich legte mich hin, kuschelte mich in die Decke und schloss die Augen.
1:39 Uhr Nachts
Ich weiß nicht mehr, aufgrund welcher Schmerzen ich aufwachte. Ich weiß nur noch, dass ich sie hatte. Mein Kopf fühlte sich an wie ein Wespennest, welches entfernt werden sollte. Mein Magen schien Achterbahn zu fahren und sich dabei noch eine Schlägerei mit meinem Darm zu liefern. Wenige Augenblicke verstrichen, dann schien mein Kopf auch auf den Achterbahnwagen aufgesprungen zu sein. Mir wurde zu übel und schwindelig zugleich, so dass ich mich setzen musste. Es glich aber eher einem Fallen. Ich hatte das Gefühl, dass das Abendessen der letzten Jahre raus wollte, auch wenn es biologisch unmöglich war. Ich raffte mich auf und guckte zum Bett meiner Schwester. Sie war nicht da. Ich schleppte meinen Körper zur Tür. Es kostete mich die Überwindungskraft eines Zehn-Meter-Sprungs im Freibad, weitergehen, und mich nicht fallen lassen. Als ich die Tür öffnete, sah ich niemanden, außer unserer Katze Olga, welche ruhig zu schlafen schien. Ich schleppte meinen Körper ins Bad, weil ich das Gefühl hatte, dass das Abendessen nun endlich raus wollte. Dort hockte aber schon meine ganze Familie. Alle sahen aus wie Leichen. Die Gesichter aller waren kreideweiß, so dass die Augen wie riesige schwarze Billard-Kugeln wirkten. Meine Mutter warf einen von Leiden erfüllten Blick auf mich. „Du also auch“ stellte sie resigniert fest. Um die würgenden Laute meiner Schwester zu übertönen, stellte ich den Wasserhahn an, und ließ das eiskalte Wasser über mein Gesicht fließen. Das kühlende Nass gab mir die Kraft, mich langsam auf dem Boden niederzulassen.“ Was passiert mit uns?" fragte ich in die qualvolle Stille. „Wir wissen es nicht genau, aber vermutlich haben wir die Strahlenkrankheit“, antwortete mein Vater.
„Sollten wir dann nicht schleunigst ins Krankenhaus?“ fragte meine Schwester, die sich wieder beruhigt hatte, und nun mit ihrem Teddy auf dem Schoß vor der Toilette saß. Meine Eltern tauschten vielsagende Blicke. „Also wisst ihr Kinder“, sie zögerte. Dann wusste ich es. „Es gibt Krankheiten, für die ist es..“, eine Träne rollte über ihre bleiche Wange. „Es ist zu spät“. Sie verbarg ihr Gesicht in der Halsbeuge meiner Schwester. „Das bedeutet...“. Meine Mutter konnte den Satz nicht mehr zu Ende führen.
„Wie lange bleibt uns noch?“ fragte ich. „Wissen wir nicht", antwortete mein Vater. Ich dachte immer, es sei schlimm zu wissen, dass man stirbt. Ist es auch. Aber auf einmal schätzt man jede Sekunde, jeden Atemzug, den man noch bei seiner Familie bleiben kann. Ich probierte zwanghaft, nicht an die Dinge zu denken, die ich nie mehr tun könnte. Es gelang mir. Stattdessen stand ich auf und merkte, dass sich meine Glieder wieder besser anfühlten. Ich stand in der Tür und sah, wie die anderen sich auch aufrichteten. Ich sah alle noch einmal an, und wusste, es war das letzte Mal. Allen schien es ähnlich zu gehen wie mir. Ich ging recht sicher, wie ich fand, zu dem Schreibtisch, wo Olga lag und mich aus ihren smaragdgrünen, toten Augen anschaute. Ich streichelte ihr graues Fell (ihr Körper war schon ganz steif, trotzdem war es beruhigend, sie zu streicheln), während ich einen Stift und ein Papier nahm und anfing zu schreiben: Liebe Menschheit, ich bin 13 Jahre alt und weiß, dass mein Leben nicht mehr lang gehen wird. Ich würde gerne jeden Tag meines Lebens noch mal leben. Ich möchte, dass keiner mir nachtrauert. Es braucht Opfer, um etwas zu ändern. Die gibt es nun. Ihr könnt das Negative in den Werken nicht sehen. Für euch ist es die Stromquelle, für mich der Tod. Ich wünsche euch allen, dass ihr niemals erfahren müsst, was diese Werke alles auslösen können. Lernt stattdessen aus meinem Leid.. Denn dass, was in dieser Nacht passierte, soll sich niemals wiederholen. Ich hoffe, dass irgendjemand einmal das hier liest. Jeder soll davon erfahren, was wirklich passiert ist.
Ich merkte, wie die Achterbahnfahrt wieder los ging. Dann verschwamm alles vor meinen Augen, und ich dachte: Bitte lest den Brief.