*Menschwerdung 1:*
Es ist ganz still, aber ein Vibrieren liegt in der Luft. Es sind die letzten Minuten vor der Morgendämmerung, ein leichter Nebel schwebt über der Weite, bereit zu zerfallen. Die Stille, die feuchten Tropfen und das fahle Licht gehören ihr alleine. Sie ist nur eine Silhouette, die sich dunkel gegen die Farblosigkeit der vergehenden Nacht abhebt. Ihr alleine gehört das Gefühl der kühlen Erde unter den Fußsohlen, das Streifen der harten Halme an den Beinen. Ihr gehört der Moment, bevor der Tag zu atmen beginnt, aber für alle anderen ist sie nur ein Umriss, der im Licht der aufgehenden Sonne mit der Ferne verschmelzen wird. Der Mensch hatte begonnen zu aufrecht laufen.
*Verhandlung:*
„Jetzt würde ich es anders machen. Ich würde nicht mehr weitermachen und versuchen so etwas zu ignorieren. Aber damals war mir das nicht klar. Ich hätte doch nicht wegen einer Kleinigkeit so ein Theater machen können. Also blieb mir nur eines übrig - weiter zu machen, damit sich alles schön weiterdrehen kann.
Jetzt weiß ich, es war ein Fehler. Jetzt bin ich hier und will die Zeit zurückdrehen. Es war keine Kleinigkeit, es waren die ersten Symptome. Ich werde den Fehler nicht nochmal machen. Ich werde achtsamer sein, versprochen. Dann könnte doch jetzt zur Abwechslung mal alles gut laufen.“
*Menschwerdung 2:*
Der See ist so groß, dass er das Wasser aus den beiden Zuflüssen ruhig und ohne Regung entgegennimmt. Der See ist so groß, dass sich am Ufer die Bäume in der glatten Oberfläche spiegeln und dort, wo der breite Abfluss das Gehölz verdrängt hat, der klare wolkenlose Himmel. Er beugt sich über den See und sieht sich in diesem Spiegel. Er streicht sich über den nackten Oberkörper, über das zerfurchte Gesicht. Ich, denkt er, ich habe ihn überlistet, weil ich wusste, wie er sich verhalten würde. Dann wäscht er sich das Blut erst von den Händen und dann aus dem Gesicht. Er wartet bis die roten Schlieren in den zitternden Kreisen des Sees verschwunden sind und betrachtet erneut sein Gesicht. Ich, denkt er. Der Mensch hatte Selbsterkenntnis erlangt.
*Depression:*
„Ja, ich hatte schon immer hohe Ansprüche an mich. Ich bin zwar klein, aber das hat mich noch nie von etwas abgehalten. Es ist mir schon wichtig, etwas Besonderes zu leisten, etwas zu schaffen, was noch niemand zuvor geschafft hat. Gleichzeitig wollte ich nie negativ auffallen. Ich stehe nicht gerne im Zentrum der Aufmerksamkeit. Und jetzt ist genau das eingetreten, ich bin. Die anderen sind sauer auf mich, weil ich aus der Rolle falle, es nicht früh genug gemerkt habe, dass ich krank bin und Hilfe brauche. Sie sind sauer und ich kann nicht weg, die Stimmung ist eisig. Das ist vielleicht die schlimmste Strafe. Man verliert nicht nur alles was man sich erarbeitet hat, sondern auch die Zukunft, die man sich vorgestellt hat.“
*Menschwerdung 3:*
Der Ton ist rund und voll und schwillt immer weiter an, bis er in ungeahnten Höhen explodiert. Die Stimme trägt ihn behutsam wieder hinab, nur um umso schneller wilde Wechsel und Sprünge zu vollführen. Er ist hingerissen vor Bewunderung. Dass all diese Töne eine Bedeutung haben, ist schwer vorstellbar. Dass all diese Töne Wörter formen, mit denen man Geschichten erzählen und die Welt erklären kann, ist kaum zu begreifen. Aber am beeindruckendsten ist zweifellos die Existenz von Gesang, dem puren Schwelgen im Übermaß der Möglichkeiten des Stimmgebrauchs.
*Zorn:*
„Warum ich? Das ist eine dämliche Frage! Als wenn ich etwas dafür könnte. Man sucht sich seine Krankheiten doch nicht aus! Ich habe ganz bestimmt nicht „hier“ geschrien als sowas verteilt wurde. Warum also ich? Weil das Schicksal etwas gegen mich hat? Und die anderen können einfach weiterleben, oder was? Manchmal halte ich es nicht aus mit Gesunden… Die können alle sorglos ihren gewohnten Bahnen folgen. Das ist alles andere als fair.“
*Menschwerdung 4:*
Sie befeuchtet das Ende des Fadens kurz mit ihren Lippen, dann schiebt sie ihn durch die schmale Öse am Ende der Nadel. Ihre Stiche sind eng und gleichmäßig. Sie arbeitet mit flüssigen Bewegungen, und am Ende hält sie ein warmes Kleid in der Hand. Das werden sie im Winter brauchen, wenn der Schnee wiederkommen und sich an sie schmiegen würde mit seiner feuchten Kälte.
*Leugnung und Akzeptanz:*
„Sie haben mich am Anfang gefragt, warum ich hier sei und was meine Therapieziele sind. Ich habe damals geantwortet, dass es Standard sei, chronischen Schmerzpatienten eine psychologische Betreuung anzubieten. Ich habe mir gewünscht, dass alles wieder so wird wie früher.
Aber ich habe mich nicht als diesen Patienten gesehen, ich wollte nicht krank sein. Und ich wollte nicht die Bedeutung des Wortes „chronisch“ verstehen.
Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, dann sehe ich alles viel klarer. Ich kann meine Symptome erkennen und erkennen, wie sich mich beeinflussen. Jetzt kann ich sagen, ich bin krank, ich brauche Hilfe. Ich habe eine seltene Krankheit, nicht mal meine Ärzte haben sie verstanden.
Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, dann habe ich begriffen, dass ich mich unwiederbringlich verändert habe, dass die Menschen tiefgreifenden Einfluss auf mich haben. Es gibt kein Medikament, das gegen sie hilft, ich muss lernen mit ihnen zu leben. Es wird Phasen geben in denen es schlimmer ist und Phasen in denen es besser ist, sagen die Ärzte. Sie beobachten die Menschen und was sie für irrsinnige Dinge tun, um all das Leben und all das Blau zu zerstören, das mich ausmacht. Aber sie wissen nicht, was sie dazu bringt sich so zu verhalten und was man dagegen unternehmen kann. Wir testen verschiedene Medikamente und Therapien. Aber die Ärzte sagen sie können nur die Symptome bekämpfen.
Ich gebe nicht auf, solange ich lebe. Ich bin die Erde, der blaue Planet, auf dem es Wasser in festem, flüssigem und gasförmigem Zustand gibt. Ich bin die Erde, die das Leben hervorgebracht hat. Und vielleicht, vielleicht werde ich sie irgendwann im Griff haben, die Menschen, die Schmerzen.“