Blick in eine kurze Sitzung

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Karolin Kolbe, 25 Jahre

Naturaeinimicusie, die: Pathologisches Verkennen der tatsächlichen Umstände im Hinblick auf Natur und Umwelt, umgangssprachlich auch bekannt als Naturfeind-Syndrom. Sie zeigt sich meist im Verdrängen realer Zustände, fehlendem Weitblick auf die Zukunft sowie krankhaftem Festhalten an falschen Tatsachen. In schwerwiegenderen Fällen kommt es zu Affektstörungen, Aggression und Gewalt gegenüber anderen. Das Syndrom wurde in den späten 2010er und 2020er Jahren von Dr. Kathrin Engel erforscht. Besonders häufig zeigt sich die Naturaeinimicusie bei Menschen, die wirtschaftliche sowie politische Machtpositionen bekleiden.

Sie sitzt mir gegenüber und sieht mich beinahe etwas bohrend an. Ich fühle mich unwohl und sinke noch tiefer in meinem schicken, aber unbequemen hellbraunen Sessel aus Leinen zusammen. Ihre eisblauen Augen sind scharf, sie will alles wissen, aber sie hat mich noch nicht dort, wo sie mich sehen will.
„Frau Lerche…“, sagt sie langsam zu mir. „Bitte erläutern Sie noch einmal, wann es erstmalig zu Konflikten mit ihrem an Naturaeinimicusie erkranktem Vater kam. Ab wann, würden Sie sagen, waren die Symptome offensichtlich?“
Die Frage hat sie mir oft gestellt und ich oft beantwortet. Aber sie will es wieder und wieder hören, als fehle ihr etwas. „Mein Vater war schon immer so. Damals war die Naturaeinimicusie noch nicht als Krankheit bekannt. Rückwirkend jedoch würde ich sagen, dass er schon immer darunter litt.“
„Wie äußerte sich dies in Ihrer Kindheit?“ Sie kritzelt auf ihrem Block herum, das blonde Haar in einem ordentlichen Dutt, der schlanke Körper im grauen Hosenanzug, mindestens zwanzig Jahre älter als ich. Licht fällt in den hellen Raum und blendet mich, lässt mich blinzeln.

„Es fing schon bei Kleinigkeiten an. Das Licht löschen, Mülltrennung, der Konsum von billigem Fleisch, Kurzstreckenflüge. Er hatte kein Bewusstsein dafür, obwohl damals bereits bekannt war, wie sie unsere Umwelt und damit unsere Zukunft beeinflussen. Auch meine Mutter ist betroffen, jedoch nicht so schwer, wie er. Ich wuchs mit zwei an Naturaeinimicusie erkrankten Elternteilen auf, in der großen Gefahr, das Syndrom selbst zu bekommen. Wenn wir Brötchen wollten, sagte mein Vater zu meiner Mutter: Schatz, nimm doch das Auto, wenn wir Müll rausbrachten, sagte er: Ach, schmeiß alles zusammen, das wird am Ende eh wieder gemischt und verbrannt. Und wenn Menschen mit grünen Fahnen auf Fahrrädern die Straßen blockierten, dann schimpfte er auf die Scheiß-Ökos, die einem immer ein schlechtes Gewissen einreden wollen. Ich habe mich als Kind für seine ausfallenden Worte geschämt.“

Sie hält inne und hebt ihre Hand zum Zeichen, dass ich kurz stoppen soll. Rasch schreibt sie etwas auf, eine schmale Augenbraue schnellt nach oben.
„Sie haben demnach bereits als Kind seine Aussagen bewusst abgelehnt?“
„Genau.“

Über einen Zettel in der Uni bin ich auf Sabrina Klose gestoßen, die mir jetzt so adrett gegenübersitzt.
Studienteilnehmer*innen gesucht: Ich, Sabrina Klose, promoviere am Institut von Dr. K. Engel zum Thema ELTERNSCHAFT UND ERZIEHUNG MIT NATURAEINIMICUSIE. Ich forsche zu Langzeitfolgen und möchte dazu beitragen, mithilfe qualitativer Methoden eine angemessene Therapie für Erkrankte zu entwickeln.
Ich habe mich sofort angesprochen gefühlt. Ich arbeite in einer Beratungsstelle zum Umgang mit Naturaeinimicusie und natürlich beschäftige ich mich privat sowie berufsbedingt mit der Erkrankung.
Besonders mein Vater leidet an einer Form, die mit dem Alter schlimmer zu werden scheint. Sabrina Kloses Interesse an mir ist groß: ich bin ein Beispiel, das sich völlig anders entwickelte als die Eltern. Sie selbst wuchs in einer Welt auf, in der die Krankheit bereits erkannt und behandelt wurde, in der die Naturaeinimicusie-Patienten nie die Welt regierten.

„Und weiter?“ Sabrina Klose reißt mich aus den Gedanken. Mit einer Hand stützt sie sich auf dem Sessel ab, der genauso unbequem sein muss, wie meiner.
„Schlimmer wurden die Anzeichen in den 2010ern“, fahre ich fort und versuche erneut eine gemütlichere Position zu finden. „Ich kam 2018 als eine der ersten aus der Stadt in den Hambacher Forst, wo wir mit dem Protest erreichten, dass der Wald unberührt bleibt. Jährlich hielt ich bei der Berliner WIR HABENS SATT Demo Reden. Bei Fahrraddemos trug ich Banner, auf denen "Das ist auch meine Straße" stand. Ich war dabei, als das Gesetz zum Verbot von Privatautos in den Innenstädten unterschrieben wurde und als der Begriff Biodiversität nicht mehr nur ein Schlagwort zum Wählerinnenfang war, sondern in Gärten, auf Feldern und in der Imkerei umgesetzt wurde. Ich war auf der Party, als der endgültige Kohleausstieg früher als gedacht geschafft war und als Steuern für Fleisch und andere Lebensmittel mit schlechter Umweltbilanz gezahlt werden mussten, was ebenfalls in einem Verbot endete…“ Ich merke, wie ich mich in Rage rede und kaum aufhören kann. Sabrina Klose scheint das zu gefallen, sie schreibt mit schnellem Stift auf ihrem Block herum und sieht ab und zu mit aufgeregtem Blick auf.
„Weiter, Frau Lerche!“, drängt sie mich. Offenbar sind wir endlich an einem Punkt, auf den sie hinauswill. Emotionen. Die habe ich bisher versucht zu vermeiden.
„Mein Vater wurde regelmäßig aggressiv, er wollte mir verbieten, mich am Umweltschutz zu beteiligen. Auch jetzt, wo wir all das umgesetzt haben und an weiteren Forderungen arbeiten, erkennt er seine Erkrankung nicht. Er ist einfach… schon zu lange betroffen.“
Meine Stimme zittert. Ich weiß, dass mein Vater nie gesund werden wird.
„Danke Frau Lerche“, meint Sabrina Klose und klappt ihren Block zu. Die Sitzung war kurz, doch sie wirkt zufrieden.
„Eine letzte private Frage“, sie lehnt sich vor. „Haben Sie persönlich eine Idee, wieso die Krankheit so lange unentdeckt blieb, wieso die Patienten die Politik lenkten?“
Ich habe mir die Frage schon zu oft gestellt. „Ich weiß es nicht“, sage ich, stehe auf und nehme meine Tasche. „Aber in Zukunft wird das anders sein. Wir haben es gerade so geschafft.“

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