Das Erste, was ich an diesem Morgen erblickte, war ein halboffenes Maul. Zugegeben – besonders intelligent sah er nicht aus mit diesem Augenpaar, das mich so leblos wie zwei Steine anschwieg und dem vertrockneten Schuppenkleid, dessen frühere Farbe sich nur erahnen ließ. Seine Kiemen flatterten im Wind wie der Unterwassermotor eines Schiffes. Früher mussten seine Schuppen silberglänzend gewesen sein. Heute waren sie nur noch mattgrau.
Ich rieb mir die Augen als Test, dass ich mich nicht noch im Halbschlaf befand, doch der Fisch wollte nicht verschwinden. Er hatte sich vor das Foto von unserem letzten Familienurlaub geschoben und drängte sich provokant in mein Sichtfeld. Als wäre er eine Mücke, machte ich eine wedelnde Handbewegung, doch er scheute nicht zurück. Er zeigte gar keine Regung. Selbst, als ich mich umzog und meine Aufmerksamkeit von einem seltsamen Geräusch aus dem Garten an sich gerissen wurde, blieben seine Umrisse in meinem Sichtfeld. Ich riss mein Fenster auf und starrte auf Mr. Dorphy, unseren Nachbarn.
„Was machen Sie da?“ ,rief ich laut.
Mr. Dorphy, ein schlacksiger Mann Mitte fünfzig, schaute beiläufig zu mir. In der Hand hielt er einen Kanister, aus dem ein schwarzer Wasserfall auf unsere Seite des Zauns rauschte. „Oh, ich habe jetzt 'nen neuen Rasenmäher. Ich muss das alte Benzin loswerden.“
„Und das machen Sie, indem sie alles in unseren Garten kippen?“
„Wenn es Dir nicht passt, kannst du ja woanders hinziehen!“
Ich verdrehte die Augen. Als ob das so einfach wäre. Bevor ich meine Mutter von Mr. Dorphys Verhalten in Kenntnis setzte, huschte ich rasch ins Badezimmer. Ich putzte mir die Zähne, ehe ich nach dem Peeling griff und mein Gesicht einrieb. Doch sobald meine Wangen mit dem Peeling in Kontakt kamen, zuckte ich zurück. Es brannte. Mein Gesicht stand in Flammen. Sofort riss ich den Wasserhahn auf, doch nur ein einzelner Tropfen kämpfte sich hinaus. Waren die Leitungen wieder kaputt? Ohne eine Sekunde zu verlieren raste ich ins Badezimmer im Erdgeschoss und patschte mir das Leitungswasser ins Gesicht, um das Feuer auf meinem Körper zu löschen. Doch selbst nach der dritten Katzenwäsche fühlte sich meine Haut noch immer leicht taub an. Ich nahm einen tiefen Atemzug, doch die Luft blieb mir in der Kehle stecken. Ich beobachtete mich selbst im Spiegel.
Meine Mutter hatte das Haus schon verlassen, also schnappte ich mir meine Jacke und zog hinter mir die Tür zu. Dabei folgte der Fisch mir wie ein stierender Schatten. Er verließ mit mir das Haus, wartete an der Haltestelle auf mich und im Bus zeichnete sich sein dämlicher Gesichtsausdruck in der Fensterscheibe wie ein unheimlicher Geist ab. Egal wie sehr ich versuchte, seine Anwesenheit zu ignorieren, sein emotionsloser Ausdruck brannte sich immer tiefer in mich ein.
In der Schule lockte mich meine Freundin mit Süßigkeiten. Ich müsste ihr nur zusagen und sie würde mir was Leckeres schenken. Doch als ich mich hinreißen ließ, bei ihrem Schultheater mitzumachen, drückte sie mir lediglich ein Karamellbonbon in die Hand. Dabei wusste sie, dass ich Karamell nicht ausstehen konnte! Das Essen in der Mensa schmeckte heute auch nicht. Wahrscheinlich hatten sie uns nur angemalte Pappe vorgesetzt. Ich ließ die Hälfte auf meinem Teller, ehe ich in der Pause loszog, um mir am nächsten Eckcafé etwas zu Trinken zu holen. Begleitet wurde ich dabei von dem Fisch und ich kam nicht darum zu denken, dass er mein Unheilsbringer war. Die schwarzen Pupillen seiner Augen wirkten wie zwei Vollmonde auf einem runden Teich. Ich fragte mich, was er mir sagen würde, wenn sich sein Mund bewegen könnte. Dann könnte er mir wenigstens erklären, warum er mir schon den ganzen Tag folgte.
Ich ging zum Café, bestellte einen Thai Mocca Latte und schlenderte danach wieder in Richtung Schule. Eine Zeit lang ließ sich der Fisch nicht blicken und für einen Moment glaubte ich, endlich von ihm befreit zu sein.
Doch dann tauchte er plötzlich wieder auf. Erschien wie ein Stempel, der mir mit einer Notbremse ins Gesicht geschlagen wurde. Dieses eine Mal schaute er mich nicht an. Das konnte er nämlich nicht mehr. Er hing aufgespießt an einem Strohhalm, der ihm im Mund steckte. Seine starren Augen waren leblos. So hing er da, mit dem Kopf gen Himmel und ich fragte mich, ob er da oben irgendetwas sehen könnte.
„Was ist mit dir?“ ,flüsterte ich, geschockt von dem skurrilen Anblick.
Schweigen.
Erst jetzt erkannte ich es: Der Strohhalm war sein Strick.
Ich war die Zeugin auf dem Weg zu seinem Schaffott gewesen.
Sofort spuckte ich den restlichen Drink aus. Wusch mir über die Zunge um das Gift aus meinem Körper zu bekommen und schleuderte den Becher gegen die nächste Häuserwand. Mit zittrigen Händen wagte ich mich an den ausgelaufenen Becher und in der braunen Pfütze meines Thai Moccas spiegelte sich der erhängte Fisch und auf einmal kam mir der Strohhalm vertraut vor. Ich hatte ihn schon einmal gesehen.
Es war letzten Herbst gewesen. Da hatte meine Familie Urlaub an der Nordsee gemacht. Ich war täglich am Strand gewesen, hatte die Sonnenuntergänge genossen und dabei an To-Go Drinks genippt. An diesem einen Tag hatte ich keinen Mülleimer gesehen und ehrlich gesagt war ich auch zu faul zum Suchen gewesen. Also hatte ich den Becher einfach am Strand liegen gelassen.
„Ist doch nichts dabei“ ,hatte ich mir gedacht. „Einmal darf man das ja machen! Das ist nur eine Ausnahme.“
Ich war keine Zeugin auf dem letzten Weg des Fisches zum Schaffott.
Ich war die Henkerin.
In der Spiegelung der Pfütze wirkte meine Haut matschig braun, als hätte ich viel zu lange nicht mehr richtig durchatmen können. Ich presste meine Lippen aufeinander und griff nach dem Füllbehälter des Bechers. Danach nach dem Griffschutz für heiße Getränke. Und nach der Kappe. Zuletzt wollte ich den Strohhalm nehmen, doch ich zögerte. Denn ich fürchtete, mich daran schneiden zu können.
Ich warf alles in den Mülleimer.