„Es wird nicht wehtun.
Und falls doch, denk einfach immer daran: Desperate times call for Desperate measures.
Du tust das Richtige. Wir sind sehr stolz auf dich.“
Die Stimme der Ärztin klang wie aus großer Ferne. Sie hatte leicht reden, schließlich war nicht sie diejenige, der soeben eine Dosis hochkonzentriertes Chlorophyll in die Blutbahn injiziert worden war. Die Ärztin musterte mich einen Augenblick lang, und in ihren Augen meinte ich etwas wahrzunehmen, was ich schon lange verloren glaubte: Menschlichkeit. Im nächsten Moment starrten mich nur noch zwei leere Fischaugen an. „Du hast genau eine Stunde Zeit“, sagte sie mit monotoner Stimme, als sie mir ein kleines Gerät in die Hand drückte.
„Nutze sie gut.“
Hier sitze ich also, der smogverhangene Himmel über und die plastikübersäte Erde unter mir, und frage mich, wo das eine endet und das andere beginnt und ob es so etwas wie einen Horizont noch gibt. Und welche Farbe er dann hätte.
Weiß, hätte ich vor langer Zeit gesagt. Die Farbe der Hoffnung.
Aber das war, bevor sie anfingen, unsere Dächer Weiß zu streichen und unsere Plastikstraßen Weiß anzusprühen. Bevor nur noch Birken in unserer Stadt gepflanzt werden durften, weil die hohe Albedo der Farbe dazu genutzt wurde, etwas zu erreichen, was in unserer Gesellschaft schon immer zu kurz kam: Reflexion. Bevor jegliche andere Farben verboten wurden und die Mitglieder der Weißen Hose begannen, schwarzgekleidete Menschen zu verfolgen.
Bevor die Farbe der Hoffnung eine Farbe der Verzweiflung wurde.
56 Minuten noch. Ich sollte die mir verbleibende Zeit nutzen. Aber wie?
Sollte ich Mount Schutthaufen erklimmen und am Gipfel auf einen Sonnenaufgang warten, der nie kommen wird, weil der Smog das Sonnenlicht längst erstickt hat, und weil Dystopia auch ohne Sonne strahlt?
Ich mache mir nicht vor, nicht allein sein zu müssen. Nicht jetzt, wo ich zum ersten und letzten Mal seit meiner Ankunft in Dystopia Schwarz trage. Denn auch hier kennt man so etwas wie einen letzten Wunsch noch. Nur hätte ich nie gedacht, dass meiner so erbärmlich sein würde.
Das ist es also. Meine letzte, meine längste und meine einsamste Stunde.
Bald werde ich Dystopia verlassen, eine Heimat, in der ich doch immer nur ein Fremder gewesen bin.
Warum also ergreift mich ausgerechnet jetzt dieses merkwürdige Gefühl von Nostalgie, als ich vor dem vertrauten Ortsschild stehe? Ich konnte es nie ausstehen. Zu fröhlich ist es, zu gegensätzlich zu der düsteren Realität, die uns Bewohner jeden Tag aufs Neue zum Kampf herausfordert, einem verbitterten Kampf mit falschen Waffen und verzweifelten Zielen.
Meiner wird bald zu Ende sein.
Und doch verspüre ich keine Erleichterung, sondern ein seltsames Gefühl von… Bedauern.
Oma hat oft erzählt, wie schön Dystopia einst gewesen war. Jahreszeiten habe es damals gegeben, atemberaubende Sonnenaufgänge, glitzernden Schnee, der wie Zuckerguss die Welt schmückte – alles Dinge, die ich nur noch von uralten Fotos kenne.
Aber am liebsten erzählte sie von den Sternen, den Millionen glühender Lichter in einer tiefblauen Unendlichkeit, und wenn sie das tat, leuchteten ihre Augen und es war, als spiegelte sich darin ihre eigene kleine Unendlichkeit.
Wie sentimental von mir.
Noch am Tag der Verkündung des Geostationären Müllorbits, unseres „zweiten“ Mondes, habe ich die Unendlichkeit für immer aufgegeben.
Aber die verdammte Menschheit nicht.
Immer noch nicht.
30 Minuten. Desperate times call for Desperate measures.
Aber wer hat je behauptet, dass Verzweiflung und Verzweiflung zusammen Hoffnung ergibt? Noch immer stehe ich vor dem verhassten Ortsschild. „Air factory“ steht darauf, und weiter unten: „We are the lungs of the earth.“
Und plötzlich weiß ich, welche Botschaft ich der Nachwelt hinterlassen will.
Ich bücke mich und hebe eine der unzähligen weißen Spraydosen zu meinen Füßen auf, innerlich betend, dass ihr Inhalt nicht Weiß sein würde.
Er ist Grün.
Vor das Air sprühe ich die Buchstaben D, E, S und P. Despair. Denn ist es nicht letztlich das einzige, das je durch Dystopia geschaffen wurde – Verzweiflung?
Nun widme ich mich der untersten Zeile. Das R in earth ersetze ich durch ein L und füge hinten noch ein Y hinzu. Der erste Buchstabe – ein H? We are the lungs of the healthy. Wir, die Kranken, die Wertlosen. Wir sind diejenigen, die dafür kämpfen, dass die Gesunden eines Tages wieder in einer heilen Welt leben können, die wir nie zu Gesicht bekommen werden.
Aber dann entschließe ich mich anders.
Weil ich genau weiß, dass bald nicht mehr die Gesundheit der Maßstab sein wird, sondern, wie fast immer, Macht und Reichtum. Nein, kein H, sondern ein W. Wealthy.
We are the lungs of the wealthy. Weil wir unser Leben opfern, können sie ihres behalten.
Weil wir das „Richtige“ tun.
Der Wecker piept. Die Zeit ist um.
Ich lege mich flach auf den Boden und betätige den Startknopf des Geräts.
„Willkommen zur Menschlichen Fotosynthese“, ertönt eine Computerstimme.
„Danke, dass Sie uns helfen, den Klimawandel zu stoppen, indem Sie uns heute Ihre Lungen schenken. Sie helfen unserem Planeten, zu atmen, weil seine eigenen Lungen das nicht mehr können. Sie tun das Richtige.“
Ich habe mir diesen Moment oft ausgemalt, wie ich regungslos auf dem Boden liege, der smogverhangene Himmel über und die plastikübersäte Erde unter mir, und noch immer nach Horizonten suche. Ich sehe keine.
Aber eines Tages, daran glaube ich ganz fest, wird das Opfern ein Ende haben, eines Tages wird sich der Nebel aus Treibhausgasen lichten und die Sonne aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen.
Eines Tages wird die Welt wieder in Ordnung sein.
All diese Gedanken schießen mir durch den Kopf, als ich dort auf der Erde liege, den letzten Atemzug hinauszögernd, weil es noch immer diese eine unbeantwortete Frage gibt, die ich den alten Generationen so gerne stellen würde:
Wenn ich bereit bin, für eine Welt zu kämpfen, die ich nie gekannt habe und nie kennen werde, warum seid ihr dann nicht bereit gewesen, für eine Welt zu kämpfen, die ihr schon längst besaßt?