Als ich die Klasse wieder betrete, schlägt mir derselbe abgestandene Geruch ins Gesicht, wie vor ein paar Stunden. Ich rümpfe meine Nase und schaue instinktiv zu der Fensterfront, die mir den Blick auf die drei verdorrten Bäume der Schule ermöglicht und wünsche mir zum wiederholten Male, dass wir ein bisschen Frischluft in den Raum lassen könnten. Aber das ist schon lange nicht mehr erlaubt.
„Am besten wir fangen gleich da an, wo wir das letzte Mal aufgehört haben“, sage ich, als ich vor den Kindern stehe, sie mich mit ihren großen, runden Augen anstarren und ich versuche, den schlechten, aber auch so vertrauten Geruch endlich zu ignorieren. Mit zitternden Fingern halte ich ein foliertes Bild in die Höhe, zeige es in die Gruppe und lasse meinen Blick über ihre Köpfe schweifen. Sofort sind 20 Hände in der Luft, zeigen gierig in meine Richtung, ziepen und zappeln, als hinge ihr Leben davon ab. Ich deute auf ein kleines Mädchen in der zweiten Reihe.
„Das ist ein Eisbär, aber den gibt es nicht mehr. Und das Weiße, auf dem er steht, gibt es auch nicht mehr“, antwortet Tina mit ihrer Prinzessinnenstimme und sagt es so zielstrebig, so direkt, als wäre es das Normalste der Welt, und sofort breitet sich eine Gänsehaut auf meinen nackten Armen aus. Ich nicke, doch im selben Moment merke ich, dass sich etwas vor meine Augen stiehlt, meinen Blick verschleiert, als wäre ich auf einmal in einer Zeitkapsel und würde durch Rauch und Nebel wandern, um in einem anderen Jahr aufzutauchen. Mein gesamter Körper beginnt zu zittern, und ich bin wieder dort, auf unserem kleinen Schlauchboot, umringt von meterhohen Wellen, die abwechselnd über den Rand des Bootes schwappen und in unsere Gesichter schlagen, als wären wir einfach ein weiterer Eisberg in diesem endlosen Nichts. Mit unseren Gewändern sehen wir aus wie vier Weihnachtsmänner, so viele Schichten haben wir an, und dennoch friere ich überall, als wären wir am Ende der Welt angelangt und uns würde langsam die Lebensenergie ausgesaugt werden. Im Nachhinein gesehen war es das für uns ja wirklich: das Ende der Welt. Irgendwo vor der Nordküste Grönlands kreiste unser Schiff, um sowohl die illegalen Fischer, als auch die riesigen Tourismusschiffe aufzuhalten. Das hier war nicht ihr Gebiet, es war das Gebiet der Eisbären, der Könige der Arktis. Das ewige Weiß war ein einzigartiges Paradies geworden, etwas, das man unbedingt einmal gesehen haben und das man sich als Foto in sein modernes Wohnzimmer neben den offenen Kamin hängen muss. Dabei ist das Eis schon erheblich zurückgegangen. Laut der Experten gab es eigentlich kaum eine Aussicht auf Verbesserung oder auf einen Sieg. Wahrscheinlich wurde uns diese waghalsige Expedition auch nur deswegen erlaubt, weil sie aussichtslos war.
Wie der letzte Hilfeschrei der Menschheit sitzen wir zu viert aneinander gedrängt in unserem Schlauchboot, das wir vor einer Stunde ins Meer gelassen haben, um näher an die letzten Eisschollen zu gelangen. Wir wollten damit ein Zeichen setzen, eines, das um die Welt geht und der Menschheit endlich die Wahrheit vor Augen führt. Ja genau, so sieht es hier im Norden aus, Wasser weit und breit und kein Platz mehr für Tiere. Bald würden die Gletscher für immer von der Erdoberfläche verschwinden und dann wäre auch unser letzter Süßwasserspeicher von der Bildfläche radiert.
Als ich das erste Mal vor der Möglichkeit stand, etwas gegen die Erderwärmung zu tun, fühlte ich dasselbe wie jeder andere in meiner Lage: Ungerechtigkeit. Wieso war ausgerechnet ich mit dem Ziel auf die Welt gekommen, die durch vergangene Generationen geschaffenen Probleme wieder gut zu machen beziehungsweise deren Folgen zu stoppen? Wieso wird mir kein angenehmes, leichtes Leben gewährt? Wieso muss ich um das Überleben der Erde kämpfen und so viele vor mir haben es nicht getan, weil sie nicht direkt betroffen waren? Viele solcher Gedanken kreisten in meinem Kopf herum, als ich das Formular für die Expedition unterschrieb. Erst später wurde mir Eines klar: Ich war nicht geboren worden, um mit dieser Welt unterzugehen, sondern um sie zu retten, und es war schon längst an der Zeit, die Rolle als Kämpferin anzunehmen.
Ein Jahr später starb der letzte freilebende Eisbär einsam und verlassen auf einer winzigen Eisscholle, die sich langsam von einem der wenigen Gletscher gelöst hatte.
Das Zittern meiner Hände hört auf, als ich das Bild des weißen Tieres endlich zur Seite lege und das nächste vor die Köpfe der Kinder halte. Das hier zu tun, macht mir keinen Spaß, es schreckt mich ab, macht mir Angst, mir als Einzige. Die Schüler bekommen davon nichts mit.
„Das ist ein Nashorn. Ich glaub, die gibt es auch nicht mehr, außer im Zoo. Da habe ich einen gesehen“, sagt ein Junge, der artig aufgezeigt hat und mich mit leuchtenden Augen ansieht, als erwarte er für seine richtige Antwort zusätzlich noch eine Belohnung. Ich frage mich, wie lange es noch dauern wird, bis auch diese glücklichen Gesichter den Ernst der Lage verstehen und begreifen, dass die heile Welt, in der sie leben nur ein Schein aus Lügen und Schönmachern ist. Manchmal wünsche ich mir, dass ich sie davor schützen könnte. Doch die Realität wird uns immer einholen, egal, wie stark wir sie zu verdrängen versuchen.