Nach-Leben

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Amelie K. Hofmann, 24 Jahre

Es gibt uns und die Natur. Wir leben wie der Neandertaler, doch in uns schlummert das Echo eines tödlichen Intellekts. Unsere Vergangenheit ist eure Zukunft, denn wer das Ziel kennt, achtet nicht auf den Weg. Wie kann man so schnell leben, dass man sich selbst verliert.
Jahrmillionen der Zellteilung, Jahrtausende der Entwicklung. Ein Marsch des Wissens durch Jahrhunderte – und ein einzelner Atemzug reichte aus, damit sich der ganze Konvoi freiwillig von der Klippe stürzte. Wie Lemminge, die aus blindem Fleiß Brennholz für das wohl verdiente Inferno sammelten. Es war in aller Munde, doch sie verschluckten ihre Zungen. Die Menschen. Beisteher. Stumme Zeugen eines Sturms, der immer kurz vor ihren Schuhspitzen halt machte. Bis auf dieses eine Mal. Die Erde haben sie zu Ader gelassen und nicht gemerkt, dass das Blut an den Händen ihr eigenes war. Sie lebten in einer Welt falschen Wohlwollens, die Münder geöffnet, die Herzen verschlossen. Verurteilt, verbannt, verbrannt, weil Gleichwert auf einer unbeseelten Waage lag. Eine Welt, in der Türen, Fenster und Wände nicht nur zum Schutz vor Hitze und Kälte dienten, sondern zum Schutz voreinander. Eine Welt, die im Überfluss verhungerte. Die Menschheit retten, das hätte ich nicht gewollt.
- Elionee, 2168

Haben sie die Atombombe gezündet? Wir wüssten es nicht, denn sie sind alle tot. Selbst wenn anderswo die neue Pest ausbrach, kein Überlebender kann es bezeugen. Wohlmöglich sind auch die rostigen Scharniere der Nahrungskette gebrochen. Woher sollen wir es wissen, sie sind alle verhungert. Verhungert in einer Welt von Allem, nur keiner Gerechtigkeit. Nehmen und Geben, das einfachste Prinzip, durch den Fleischwolf gedreht. So wie jahrelang die Leichen derer, die aufschrien. Schweig oder stirb. Die Menschheit retten, das hätte ich nicht gewollt.
- Yūma, 2200

Wir haben viel und brauchen nichts; die Welt genießt die Ruhe. Hier existieren keine universitären Einrichtungen oder Arbeitsgebäude. Städte und Straßen sind überwachsen, Busse und Bahnen in ewigem Schlaf versunken. Am Grund des Meeres treiben Containerschiffe und Jachten, an Land liegen Passagierflieger mit zerstreuten Eingeweiden, dort, wo sie vom Himmel brachen. Übrig sind stählerne Skelette, ihrem eigenen Gewicht zum Opfer gefallen. Nur der Mensch trug es willig. Wir sind klein in dieser Welt. Unbedeutend gegen die Natur, die mit ihrem Sein alles sagt. Ihre gemütlichen Berge, saftigen Wälder und die kreischende Brandung des Meeres. Sie wissen es. Erinnern sich. Erzählen und haben schon verziehen.
Das Wissen der Menschheit existiert, irgendwo, in einem sicheren Raum in den Tiefen des Erdballs; wir waren schon immer gute Sammler. Nur hat niemand daran gedacht wie man sie findet, wenn es keine Mittel zum Suchen gibt. Verloren in einer Welt, in der jeder jeden sah und niemand sich selbst. Menschen starben schon immer, irgendwo. Dann auch die Tiere. Die Pflanzen. Die Erdhummeln und Habichte, Wüstenfüchse und Kamele, die Eisbären und Heringe, Akazien, Platanen und das Septemberkraut. Es war das Ende der Vielfalt des Lebens und der brüllende Beginn des Ablebens. Ohne Zuhörer. Vielfalt ist Summen. Brummen. Es sind hundert Stiche auf dem Körper wenn die Dämmerung naht. Die Hatz der Tiere am Tag und als das Lauern in der Nacht. Blühende Wiesen und harzige Wälder. Aber hier ist es erstaunlich ruhig.

Sie zählten hundertachtundvierzig Tage bis zur Katastrophe. Sie hätten erzählen können was war, aber Geschichte, so steht es hier, wurde schon zu oft niedergeschrieben. Zu Lehrzwecken. Und gelehrt hat sie die Menschen nichts. Die Menschheit retten, das hätte ich nicht gewollt.
Jula, 2223

Das Buch aus dem ich lerne, ist von Hand geschrieben, die Buchstaben sind krakelig und blass, ein paar Seiten sogar noch leer. Was geblieben ist sind Schrift und Sprache. Die Schrift und Sprache der letzten Kinder mit Eltern der alten Welt. Unsere Eltern, die letzten Kinder, starben sehr früh. Sterben wir auch früh? Wir empfinden keinen Schmerz, keine Trauer, so wie sie im Duden definiert sind. Wir vermissen nichts. Es ist eine faktische Leere, eine kollektive Abwesenheit, und sie ist nicht leer, sondern sehr voll. Wir haben uns. Wir sind gemeinsam.
Samuel ist mein Sohn. Ich zeige ihm wie man die Hände fest aneinander reibt. „Da ist Feuer“, sagt er. Kindliche Fantasie könnte die Welt retten. Doch wir werden erwachsen, sie werden erwachsen. Wir sollten ihnen das Kind-sein nicht austreiben. Ein Spross in der Wildnis bleibt wild, denkt wie ein Wolf und überlebt aus Erfahrung, nicht mit Wissen. Das ist der Beweis, dass wir selbst die Verantwortung für unser Geschlecht tragen. Für das, was wir lehren, in Wort, Schrift und Moral. Das Kollektiv erfährt. Es ist verantwortlich für unsere Welt, und das, was in ihr passiert, wenn wir nicht handeln, wie wir denken. Und ein böses Kollektiv übertrumpft alles Denken.

Das Klima ist rau. Niemand weiß, wo er ist. Ich führe unsere Gruppe, ohne es zu wollen, aber in Ungemeinschaft sterben wir. Wir leben und wir lieben. Schmerz ist so stark wie das Leben, Liebe noch immer stärker als der Tod. Es wird Krieg geben, wenn Völker auf Völker stoßen. Jeder wird eine andere Geschichte erzählen. An einem Ort beginnen sie an einen Gott zu glauben. Einer beginnt zu predigen, ein anderer knechtet seine Freunde. Irgendwo macht einer wem das Land streitig. Jemand begeht Mord, um zu stehlen was er will, ohne es zu brauchen.
Funktioniert so Sprache? Sprache bildet Wissen, Verstand und als nächstes die Gewalt. Habsucht und Gier werden mehr töten als unsichtbare Krankheiten.

Die natürliche Auslese wurde fortgesetzt. Autoimmunkrankheiten gibt es nicht mehr. Sie starben mit ihren Wirten und der Stärkste überlebte. Der Stärkste und der Klügste. Drum werden sich Stark und Klug bekriegen. Die Menschheit ist zugrunde gegangen und schon jetzt fühle ich den Schmerz der Zukunft. Ich verstehe. Die Menschheit retten, das hätte ich nicht gewollt.
-Mejón, 2259

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