Kontrolle meiner Welt
Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Dubnia, 22 Jahre
Ich habe es nicht geglaubt. Irgendwo in mir drin wusste ich, dass es passieren musste. Vielleicht wollte ich es nur nicht glauben. Monatelang sind Menschen mit gelben Regenschirmen und Bannern durch die Stadt gelaufen. In vielen Fenstern hängen die Schilder noch. Sie alle haben gegen das Atomkraftwerk protestiert. Sie hatten Angst vor veralteter Technik und rissigen Wänden. Zu oft schon gab es Störungen in dem Kraftwerk. Der Reaktor wurde vor Jahren gebaut. Damals, als die Menschen dachten, Atomkraft sei ein großer Fortschritt. Mit Hilfe von langwieriger Forschung hatten sie eine neue Energiequelle gefunden. Eine für die sie keine Kohle brauchten. Sie erschien ihnen sauber. Doch dann passierte die erste Katastrophe, sodass ganze Städte nicht mehr bewohnbar sind. Noch heute. Eine menschliche Erfindung außerhalb menschlicher Kontrolle. Doch sie sahen keine Alternativen. Zurück zu alten Energiequellen? Zur Verbrennung wertvoller Rohstoffe? Sonne und Wind reichten nicht. Also sind die alten Atomkraftwerke geblieben. Sie wurden weniger. Sie mussten Proteste ertragen. Aber sie sind immer noch da.
Die Angst stieg. Trotz regelmäßiger Demonstrationen blieb das alte AKW. Viele Einwohner der Region haben sich ihre eigenen Notfallpläne überlegt. Sie hatten Essensvorräte, Schutzausrüstung oder ein Motorrad zur Flucht bereit stehen. Ich nicht. Ich wollte nicht in dieser Angst leben. Ich wollte nicht jeden Morgen aufstehen und meiner eigenen Schwäche ins Gesicht sehen. Ich bildete mir ein, die Gefahr könnte kontrolliert werden. Sie sei minimal klein. Unwahrscheinlicher als ein Lottogewinn.
Heute Morgen hat mich wie immer mein Handywecker aus dem Schlaf gerissen. Ich habe geträumt, dass ich auf einer Blumenwiese liege und ein Schmetterling auf meiner Nase landet. Jedoch hat sich das Gezwitscher der Vögel plötzlich in das Piepen meines Weckers verwandelt. Nachdem ich einen Kaffee getrunken hatte, fühlte ich mich wach genug, um das Radio einzuschalten. Die hektischen Stimmen der Reporter dringen in mein Ohr. Ich weiß, dass etwas nicht in Ordnung ist. Mein Kopf schaltet ab. Wörter sickern in mich hinein. Reaktorkühlung. Katastrophe. Flucht. Leben. Schuld. Verstopfte Straßen. Strahlung. Ich schlurfe zum Fenster und schaue in den Himmel. Er sieht aus wie immer, Regen tröpfelt hinunter. Doch von der Straße tönen Hupen. Menschen schreien sich an. Kinder weinen. Flucht. Wie oft habe ich dieses Wort gehört. Doch nie hat es mich betroffen. Es war ein Wort in den Medien, täglich präsent, aber nicht in meinem Leben. Und diese Menschen dort unten. Sie kämpfen gegeneinander in der Hoffnung schneller weiter weg zu kommen. Doch sie können nicht gegeneinander gewinnen. Sie alle kämpfen gegen eine Gefahr, die sie nicht kontrollieren können. Ich verstehe sie nicht. Haben sie eine so unerschütterliche Hoffnung? Denken sie an ihre ungeborenen Kinder? Kinder die wohl niemals gesund diese Welt erblicken können. Aber möchten sie diese Welt noch weiter geben? Es ist eine andere Welt geworden. Ich schalte das Radio aus. Das Geschrei kann ich nicht mehr ertragen. Die Vorwürfe. Die Schuldzuweisungen. Wir wussten es doch alle. Aber wir waren zu bequem. Wir wollten es nicht wissen.
Ich schalte Musik ein. Rockmusik aus den Achtzigern. Dann gehe ich zu einem kleinen Schrank, ich hole eine Flasche heraus. Ich puste die Staubschicht von ihrem Deckel. Diese Flasche war mein einziger Notfallplan. Ein Plan, der gut im Schrank versteckt war, den ich vergessen konnte. Er hat meinen Alltag nicht gestört. Ich konnte unbekümmert weiterleben. Ich öffne die Flasche und trinke sie in einem Zug leer. Dann lege ich mich aufs Sofa, schließe die Augen und genieße die Musik. In meinem Kopf ist nur noch die Musik. Sie füllt mich aus. Mir wird warm. Das muss von den schnellen Tönen kommen. Sie tanzen durch meine Ohren, hinein in meinen Kopf. Eine Explosion aus Klang. Doch auf einmal herrscht Stille. Für immer.
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Autorin / Autor: Dubnia, 22 Jahre