Die letzte ihrer Art
Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Zeynab Chihabi, 18 Jahre
Sie war anders. Anders als alle anderen. Es war nicht ihr Aussehen, was sie einzigartig machte. Nicht ihre Art zu reden oder gar ihr Verhalten. Es war... ihr Blick. Ihr Instinkt. Ihr Gefühl. Sie sah Dinge, die andere nicht sahen. Nicht weil sie irgendwelche Kräfte hatte oder etwas dergleichen. Sie sah alles von einer anderen Perspektive, von einer Perspektive, die Geschichten erzählte und sie nicht belog.
In den 19 Jahren, in denen sie auf der Welt war, hatte sich viel verändert. Die künstliche Intelligenz war so fortgeschritten, dass es neben Roboterhaushilfen sogar schon technische Babysitter und künstliche Altenpfleger gab. Die Menschen besaßen nur noch selbst fahrende und fliegende Autos. Das Internet war alles, woran sie hingen. Niemand mehr bemerkte, was hinter den Kulissen der so angepriesenen Technologie in der Realität vorging.
Sie lief ihre altbekannten Wege. So wie jeden Tag. Sie steuerte einen ganz besonderen Ort an. Einen Ort, der von allen vergessen worden war. Mit Kopfhörern in den Ohren lief sie in langsamen Schritten die Straße entlang. Es war jedes Mal das Gleiche, sie übertönte die Welt um sich herum mit den erhabenen Klängen eines Klaviers. Ein Schwall, ein Wasserfall von Gedanken durchflutete ihren Kopf. Es waren ihre Gedanken, Hoffnungen, Wünsche und Erinnerungen, die sie am Leben hielten.
Die Liebe zur Technologie zerstört das Menschsein, dachte sie. Wozu das Haus verlassen, wenn man alles von zuhause aus machen kann? Wozu in den Himmel schauen und die Sterne beobachten, wenn man in eine virtuelle Realität eintauchen und in einem Meer von leuchtenden Kristallen in der Milchstraße umhertanzen kann? Wozu um andere kümmern, wenn Technik das übernimmt? Wozu denken und kreativ sein, wenn es eine Maschine gibt, die das macht?
Eine sanfte Frühlingsbrise kam auf und blies die träumende junge Frau zurück in die Realität. Sie blickte auf und merkte, dass sie bald angekommen war. Sie befand sich umgeben von Trümmern hinter den Absperrungen der Stadt. Jede alte Hausfassade, jeder zerbröckelte Stein, jeder hundert Jahre alte Ziegel erzählte eigene Geschichten. Nach ein paar weiteren Schritten war sie angekommen. Lächelnd nahm sie die Kopfhörer aus den Ohren und die Klavierklänge summten leise weiter. Sie hockte sich hin und blickte auf eine einsame, verlassene Gruppe von Grashalmen, die etwas zu beschützen schienen.
Sie freute sich, dass sie noch lebte. In letzter Zeit war sie immer wieder hergekommen und hatte sie daran erinnert, dass es andere Farben gibt als ein langweiliges Grau. Sie holte tief Luft und ein magischer Duft umhüllte sie. Alleine stellte sie sich dem Wind, dem sauren Regen, der Hitze und dem Frost immer wieder aufs Neue. Sie war einzigartig. Wunderschön. Stark.
Für sie war sie alles. Sie erinnerte an die Vergangenheit, von der ihre Eltern ihr immer wieder erzählt hatten, eine Vergangenheit, die es nicht noch einmal geben wird. In samtweiches Rot getaucht lugte sie zwischen den Grashalmen hervor, eine Blume … die letzte ihrer Art.
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Autorin / Autor: Zeynab Chihabi, 18 Jahre