Sie schrie mich an.
Sie schrie mir mitten ins Gesicht. So laut, dass ich den Eindruck hatte, sie sei in meinem Kopf. Der Schock darüber, was sie mir mit ihrer lauten, zitternden Stimme vorwarf, fraß sich in meine Gedanken. Jedes Wort stach mir mitten ins Herz und hallte dumpf in meinem Kopf wider. Niemals dachte ich darüber nach, was für Auswirkungen mein Verhalten haben könnte. Ein Verhalten, das so normal und gewöhnlich war, wie das jedes anderen Menschen. Ein Verhalten, das keine direkten negativen Konsequenzen mit sich brachte und dennoch schwere Folgen hatte. Ihre Stimme wurde mit jedem Wort, das sie voller Qualen sprach, immer leiser. So lange, bis sie schließlich verstummte. Ein letztes Blatt fiel zu Boden, während plötzlich leblose Stille hereinbrach.
Nichts.
Kein Ton war zu hören. Nur ich konnte noch die leidenden Worte hören, die längst gesprochen waren. Worte, die schwer wogen und wie dunkle Schatten über mir hingen. Sie brannten noch lange in meiner Seele und schnitten so tief, dass ich mir sicher war, diese Wunden würden niemals heilen.
Sie war nicht meine Freundin. Sie stand mir nicht einmal besonders nahe. Sie war eher eine unbekannte Fremde für mich. Jemand, der mir wichtiger sein sollte, als es mir zuvor bewusst gewesen war. Sie wusste so viel mehr über mich, als ich über sie. Es war mir fast schon unheimlich, wie gut sie mich kannte. Bevor ich gelernt hatte, sie zu verstehen, verstand sie mich schon besser, als ich mich selber verstand. Sie hatte immer mit mir gesprochen, doch ich habe ihr nie zugehört. Sie flehte. Sie schrie nach Hilfe. Sie verkümmerte in ihrer kleinen, dunklen Ecke und trotzdem nahm ich sie kaum wahr. Ihre Anwesenheit war für mich so normal, dass ich mich gar nicht darum bemüht hatte, mich mehr als nötig um sie zu kümmern. Sie war fast immer in meiner Nähe. So unscheinbar und fast unbemerkt. Ich gab ihr lediglich ab und an mal etwas Wasser, ganz nebenbei.
Jetzt, in diesem Moment, wünschte ich mir, ich hätte wenigstens einmal zugehört. Ihr wenigstens einmal gesagt, wie wichtig sie war. Nur ein einziges Mal ihre Worte verstanden. Doch jetzt, wo sie sterbend neben mir lag, vertrocknet, vernachlässigt und missverstanden. Jetzt, wo es scheinbar zu spät war und ich nur noch ein paar alte, braune Blätter in den Händen hielt. Jetzt erst habe ich gelernt, sie zu verstehen.
Umso länger ich hier kniete, inmitten von Scherben, erstarrt und bewegungsunfähig. Umso länger die Schreie in meinem Kopf widerhallten und sich die Welt um mich herum verdunkelte. Umso länger mein Herz von innen heraus zerbrach. Umso mehr verstand ich, was mir meine Großmutter vor ihrem Tode immer versucht hatte, zu erklären:
Es sind nicht die Menschen, die leiden, sondern die Natur. Jeder Mensch, der nur an sich und nicht an die Natur denkt, zerstört sie Stück für Stück. Nur ein kleines Bisschen Pflege. Nur ein kleines Bisschen Wertschätzung von jedem einzelnen würde helfen. Es würde dabei helfen, die Natur zu schützen und die Welt zu einem wunderschönen, lebensfreundlichen Ort zu machen. Zu einem Ort, wie er es vor langer, langer Zeit bereits gewesen war. Eine Zeit, in der Menschen noch abhängig von der Natur waren und ihren Wert kannten. Eine Zeit, in der der Mensch noch nicht alles neu erschaffen konnte und sich selber von der Technik abhängig machte.
Die Natur ist wichtiger für uns, als es uns bewusst ist. Nur manchmal brauchen wir die Chance, genau das zu erkennen...