Früher war das doch alles etwas anders. Es gab keine Handys, keine Laptops, es gab kein Whatsapp und kein Youtube.
Früher fragte er sich, wie diese Zeiten wohl gewesen sein müssen - vermisst ein Tier, das in Gefangenschaft geboren wurde, seine Freiheit? Erinnert es sich überhaupt an den vorigen Zustand? Aber diese Frage trifft eigentlich nicht den Kern. Fragt es sich irgendwann, ob das die richtige Entscheidung war? Eigentlich, wirklich eigentlich sind diese Fragen doch schwachsinnig.
Wie fühlt sich ein Tier, das sich selbst einen immateriellen Käfig baut und es trotzdem schafft, in ihm gefangen zu sein?
Es war wirklich schwachsinnig, diese Fragerei, denkt er so bei sich. Was sollte dieses Tier denn schon empfinden? Es würde sich völlig normal fühlen, aber sich wie ein Eingesperrter verhalten. Wie soll man auch bemerken, dass man ein Gefangener ist, wenn man keine Gitterstäbe sehen, sondern die Steppe, die ganze Weite der Welt erblicken kann?
Würde man jemals an Stäben rütteln, die man nicht sehen kann? Wohl kaum. Vor allem dann nicht, wenn alle anderen Tiere im Käfig dir andauernd sagen, dass du vollkommen frei bist. Aber es ist schwer, Lebewesen zu glauben, die selbst im Käfig sitzen. Ja, er kann ein Lied davon singen, wie es ist, alles zu besitzen,
auf einer luxuriösen Couch zu sitzen,
alle Tore ständig offen zu sehen,
doch nie durch eines hindurchzugehen,
weil der Blick immer nach unten greift,
wo jeder Traum im Flimmerkasten reift.
Was ist das für eine Freiheit, eine hypothetische? Wenn alle sagen: Tu, was du willst, aber sie gleichzeitig verlangen: Mache deine Schule, studiere dies oder das, hast du diese Nachrichten schon gelesen, gesehen, gehört, schau, hier das Foto, sag du doch mal was dazu, beziehe Stellung, trete für deine Meinung ein, finde dich selbst, aber kaufe vorher bitte dieses Shirt, schau mal, diese schönen Schuhe, sei tolerant, sei lieb, verhalte dich wie gewünscht, lass dein Geld hier und da und ach wie billig, mache diese Aufgabe und jene, gehe an dein Handy, antworte auf meine Nachricht, google dies, google das, Google hier und verwirkliche dich doch endlich mal!
Und du siehst
nur noch Gitterstäbe
und denkst: Ich schaffe doch eh nichts, ach, ein Foto, schnell gescrollt, Doubletap, kurzer Blick auf´s Tab, ein kurzes Video, der Link und Klick! Los geht es, nur ein Video und dann mache ich etwas für mich, OH!, eine neue Nachricht, schnell beantwortet, wieder zurück zum Video, Video langweilig, na gut, dann ein anderes: Fails, und dort ein Prank, wie, dort hat es wieder was überschwemmt? Mein Akku ist alle, vielleicht höre ich auf, doch da liegt das Ladekabel, lieber achte ich nicht drauf - der Akku steigt, mehr Zeit, dieses noch und das Nächste, noch schnell hier und da geantwortet, wieso schaffe ich eigentlich nichts? Und nun noch KLICK um KLICK um KLICK -
Wie fühlt sich eigentlich so ein Tier, das sich einen imaginären Käfig baut und auch noch daran glaubt?, fragt er sich beim Aufstehen. Komisch muss das doch sein.
Eigentlich könnte er so viel tun. Er könnte nach draußen gehen und das tun, was ihm selbst entspricht. Gerne würde er für etwas einstehen, gerne würde er etwas ändern. Er hat sich ohnehin schon immer für intelligent gehalten, für einen, der weiß, wie es läuft. Für einen, der etwas bewegen kann, wenn- ja, wenn er eben kann. Doch Gitterstäbe zu zersägen, die nicht da sind, ist unmöglich.
Einen Käfig zu verlassen, der nicht existiert, ist nicht möglich.
Ein Feuer dieser Hitze zu löschen, das ist unmöglich, denkt er sich, als er unter sich eine rote Stadt erblickt.
Alles, einfach alles ist in rotes Licht getaucht, es scheint, als flackerte das gesamte Szenario. Er steht da und schaut in die Flammen. Sein Haus. Die Fenster schmelzen. In seiner linken Hand hält er einen Kanister, in der rechten ein Feuerzeug.
Ein letztes Mal bebt es im Gebälk, die Flammen fauchen noch einmal aus den Fenstern und in einem letzten lebendigen Zucken stürzt das Gebäude in sich zusammen. Staub wirbelt auf, Funken fliegen umher. Es ist ein schauriger Konfettiregen. Auf dem Rasen zischt es chemisch und heiß.
Wieso braucht die Feuerwehr eigentlich so lange? Da waren sie wieder, diese Fragen. Da war es wieder, das Wort eigentlich. Wo war eigentlich das Gefängnis?
Es brannte gerade.
Als sich das erste zuckende Blaulicht in das blutrote Gemälde mischt, gibt es nichts zu retten. Kein Haus, kein Garten, keine Existenz.
Unweit der Szenerie steht er da, Silhouette gegen Himmel, und betrachtet das Gewusel der Stadt. Die Feuerwehrautos. Er hört die Polizeisirenen, die auf das Anwesen zuschießen. Er sieht den Verkehr in der Ferne. Die Menschen müssen auf Arbeit. Die Menschen rennen in einem flimmernden Kreis und nicht durch die Steppe.
Er dreht sich um und blickt in die Ferne. Zum ersten Mal erblickt er nun wahrhaftig dieses Panorama mit seinen wunderschön weißen Schattenspitzen,
und unten glänzend Wasser in prächtig leuchtend-rotem Glück,
doch kriechen jetzt wieder Schatten vom Tale her zurück
und liefern sich den täglich farb'gen Kampf,
sich in seiner Seele einzunisten,
begleiten die Gedanken in die Nacht,
in der der Wahnsinn sich entfacht
durch feste Trauer, die grausige Pracht,
an alte Tage in ihrer heiligen Tracht,
wie glänzend in dieser dunklen Zeit,
scheinbar finster bis in die Ewigkeit.
Doch Hoffnung ist eingesprungen in die Schwärze
und vergessen ist, wie gerade noch ward gelitten
durch Schönheit wie in einer Sage,
blendend wie das Licht einer Kerze,
sofort sich spiegelnd direkt im Herze
erschafft unverzüglich sie die Gabe,
die Schönheit dieses Tales zu überblicken:
Endlich ist sie mitten in die Sicht geglitten.
Hinter ihm wechselt die Sonnenfarbe langsam von orange nach gelb.
Seit seiner Kindheit hat er diese Gefühle nicht mehr empfunden.
Seit seiner Kindheit hatte er sich hinter Stäbe gezwängt.
Heute hat er etwas zerstört, das es nicht gab.
Heute hat er etwas zerstört, das es gab.
Heute hat er die Kontrolle verloren.
Früher wäre das nicht passiert.
Früher war eben
alles anders.