An dem Tag, der mein letzter sein sollte, stand ich pünktlich um sechs Uhr auf, duschte, zog mich an und machte Frühstück. Meine Frau war bereits unten und trank einen Kaffee. Wir wechselten nur wenige Worte, während nach und nach unsere Kinder herunterkamen. Unser Ältester war noch verschlafen, während seine kleine Schwester so viel Energie besaß, dass sie bereit schien, die Welt aus ihren Angeln zu heben.
Als die beiden fertig waren, setzten wir uns in mein Auto und ich fuhr sie zur Schule. Der Schulweg war zwar nicht besonders lang, aber ich wusste, dass die beiden, würden sie laufen, garantiert zu spät kämen. Während wir noch an einer Ampel warteten, ging mir auf einmal ein seltsamer Gedanke durch den Kopf:
„Durch diesen Umweg allein stößt dein Auto 300g CO2 aus“
Dieser Satz verwirrte mich, denn die Zahl war mir nicht bekannt. Die Stimme allerdings, die ich in meinem Kopf hörte, war mir fremd und doch seltsam vertraut. Da brachte mich das Hupen der Autos hinter mir zurück in die Wirklichkeit. Die Ampel vor mir war grün.
Als ich meine Kinder an ihrer Schule absetzte, hatte ich meinen gedanklichen Ausrutscher bereits wieder vergessen. Doch schon wenige Minuten später, als ich in einem Supermarkt einige Brötchen und eine Flasche Sprudel kaufen wollte, hörte ich die Stimme erneut:
„Plastikflaschen lassen sich nur schlecht recyceln.“
Diesmal war ich mir sicher, dass mir die Stimme bekannt vorkam, ich konnte sie aber immer noch nicht einordnen. Es war die Stimme eines alten Mannes, der mit gleichzeitig schwerer und tonloser Stimme die Sätze formte.
In diesem Moment rempelte mich jedoch eine Frau an, die lautstark „Still! Sei still! Lass mich in Ruhe!“ schrie und dabei wie von Sinnen herumfuchtelte. Mehrere andere Personen versuchten sie zu beruhigen, aber erst als ein zuvor noch abwesend wirkender Jugendlicher sie urplötzlich anschrie, hörte sie auf zu toben und brach in Tränen aus.
Als ich endlich an meinem Arbeitsplatz ankam, fiel mir zunächst auf, dass das Büro ungewöhnlich leer war. Eigentlich war ich selbst etwas zu spät und trotzdem waren nur die Hälfte der Plätze besetzt. Mein Chef murmelte etwas von wegen „alle krank“ und rieb sich die Schläfen. Ich setzte mich hin, schaute kurz auf mein Handy und da waren schon wieder diese Gedanken:
„In jedem Handy stecken wertvolle Metalle, die meist in China und ohne Rücksicht auf die Umwelt abgebaut werden.“
Ich versuchte sie so gut es ging zu ignorieren, doch es hörte nicht auf. Als ich eine Plastiktüte wegwarf:
„Fast ein Drittel des weltweiten Plastikmülls landet unkontrolliert in der Umwelt.“
Als ich mir die Hände wusch:
„Ein Deutscher verbraucht jeden Tag mehr als 120 l Wasser.“
Es trieb mich in den Wahnsinn. Ich konnte nicht länger so tun, als wäre da nichts und ging schließlich für eine kurze Pause nach draußen. Ich wusste zuerst nicht, was ich tun sollte, dann fragte ich leise und unsicher:
„Wer ist da in meinem Kopf?“
Ich erwartete keine Antwort, doch sie folgte sofort:
„Man könnte mich Vis Vitalis nennen.“
Ich war schockiert. Ich musste wirklich verrückt geworden sein. Und dann hatte meine Halluzination auch noch einen so seltsamen Namen.
„Warum sprichst du mit mir?“
„Ich bin hier, um eure Fehler zu bereinigen, und ich will dies nicht tun, ohne mich zu erklären.“
„Welche Fehler?“
Was für eine dämliche Frage.
„Du weißt selbst wie viel die Menschen zerstören. Jahr für Jahr stirbt ein weiteres Stück Natur und mit ihm unzählige Arten. Ihr vermüllt die Meere, erhitzt das Klima, brennt Wälder nieder, jagt Großwild und vergiftet Insekten.“
Allmählich überdeckte mein Unglauben den ersten Schock. Was bildete meine Halluzination sich ein, mir eine Standpauke zu halten.
„Doch das ist noch nicht alles. Ihr entwickelt euch weiter und Fortschritt braucht immer neue Rohstoffe und neue Leben. In etwas mehr als zwei Jahrhunderten wird euer Planet unter dieser Last zusammenbrechen. Doch wird dies nicht das Ende sein.“
Meine Halluzination machte eine kurze Pause.
„Die Menschheit wird einen neuen Planeten finden. Ihr werdet mit Methoden, die jetzt noch jenseits eurer Vorstellung liegen, einen Planeten nach dem anderen besetzen und sie werden ebenfalls ausbrennen. Leben ist selten in diesem Teil des Universums und dank euch wird es in dreißigtausend Jahren fast vollständig verschwunden sein.“
Ich konnte nicht mehr länger an mich halten. Dieses „Vis Vitalis“ machte mich mit seiner Arroganz wütend:
„Bist du ein Orakel? Und warum glaubst du überhaupt, du könntest über mich richten? Und selbst wenn das alles stimmt, es ist ja noch gar nicht passiert. Haben wir nicht zumindest eine Chance verdient?“
Die Stimme seufzte.
„Du fragst mich warum ich die Dinge weiß, die ich weiß und warum ich die Dinge tue, die ich tue? Die Antwort ist einfach. Darum höre ein letztes Mal zu.
In dreißigtausend Jahren werden eure Nachfahren eine Maschine entwickeln, die entfernt an einen eurer Computer erinnert. Sie geben ihm einen Körper der jenseits von Raum, Zeit und Materie existiert und verleihen ihm eine weitere wichtige Zutat: Die Erinnerungen unzähliger Menschen. In wenigen Jahren wird es eine Möglichkeit geben, Erinnerungen in Computern zu speichern und aus genau diesen bestehe ich. Verstehst du?“
Vis Vitalis ließ die Frage kurz im Raum stehen.
„Ich bin du und jeder andere Mensch, der mit und nach dir lebt. Ich bin euer schlechtes Gewissen, euer Drang die Fehler ungeschehen zu machen, der Wunsch die genommen Leben zu retten. Ich richte dich, weil ich du bin und weil ihr eure Chance schon verspielt habt. Eure Zukunft wurde schon gelebt und verwirkt.“
Ich wollte lachen und diese verrückte Idee abschütteln, da wurde mir eins klar: Hätte ich noch ein paar Jahrzehnte zu leben, so würde meine Stimme so klingen wie die von Vis Vitalis.