Zielort: Der Teufelskreis
Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Belinda Akel, 18 Jahre
In stiller Ruhe erwacht der Morgen. Die warmen Sonnenstrahlen kämpfen sich vergeblich durch den dunkelgrauen, mit Schadstoffen versetzten Nebel, der das wacklige Schiff aus dem Sichtfeld verschwinden lässt. Es gleitet auf den wütenden Wellen des Mittelmeers wie ein winziges Kind. Keiner kommt. Nur der Wind kommt. Und mit ihm die Angst.
Eine Angst, die sich bis in die Haut der Schiffspassagiere bohrt. Die Passagiere: Ein farbenfroher Wirrwarr von menschlichen Wesen. Eine Flut von blinden Sehenden. Um genau zu sein, sind es über sieben Milliarden. Um haargenau zu sein, 7 576 951 385 Menschen. 7 576 951 385 Menschen, die ein gemeinsames Schicksal teilen. Tag für Tag verlieren sie ein Stückchen mehr ihrs Augenlichtes. Verlieren es, weil der dilettantische Kapitän, ein mächtiger Konzerninhaber, ihnen die Sehkraft stielt. Unter den Passagieren befindet sich ein junges Mädchen. Sarah. Pechschwarze Locken, kirschrote Backen, schneeweiße Haut.
Das heulende Kreischen einer Insassin lässt ihren Körper erwachen. Ihre erschöpften Beine tragen sie hinaus auf das menschenleere Deck. Ihre mutigen Hände betasten die Wasseroberfläche, welche von einem stinkenden, giftgrünen Ölfilm bedeckt wird. In ihren Händen bleiben der Dreck und der Schmutz, die sich wie ein bösartiger Tumor in ihren Körper einnisten. Gerade will Sarah umkehren, da verheddert sich etwas merkwürdiges in ihren Händen. Der leblose Körper eines Fisches. Sarahs Herz schlägt schneller, als würde es sich in einer kämpferischen Schlacht von ihr selbst lösen wollen. Kein Zappeln, kein Zucken. Der Mund blutverschmiert, gebrochen der Kiefer.
Sarah versucht einen Blick in das Maul des Tieres zu verwerfen. Tausende, milimeterkleine Kugeln, die mit einem klebrigen Schleim vermischt sind, strömen aus dem Mund des Tieres. Todesursache: Mikroplastik. Ignorantes Handeln menschlicher Wesen. Kleinste Kunststoffteilchen, die nach einer langen Reise über lokale Abwässer, Kläranlagen und Weltmeere ihren Platz im Magen des Fisches gefunden haben.
Sarahs Hände legen das leblose Wesen wieder sanft in das Meereswasser. Bald wird es auf der Meeresoberfläche weiterschlafen - tief und fest und voller Mikroplastik im Magen… Gedankenüberladen und ziellos läuft sie wieder in das Innere des Schiffes. Das Schiff der Menschheit. Im Schiffsinneren ist es stockdunkel, so dunkel wie das pechschwarze Fell des kreischenden Adlers. Hilflos blicken sich die Passagiere in die leeren Gesichter. Mit tastenden Bewegungen läuft Sarah Richtung Sitzplatz. Da merkt sie, dass sich eine Flaschenpost auf ihrem Platz befindet. Minutenlang versucht sie die Flasche zu öffnen und wirft sie schlussendlich auf den Boden. Ein knirschender Knall. Egal. Sarah nimmt das Blatt aus den spitzen Scherben. Sie liest:
„Die Industrie wächst. Eure Konsumentenwünsche und Konsumlüste steigen. Eure Kaufkraft und eure Konsumbedürfnisse steigen. Grenzenlos. Rasend. Aus euch Menschen werden Konsum-Zombies! Aus eurem Bedarf wird Wunsch. Aus eurem Wunsch wird Leiden. Das Leiden von uns Frauen. Täglich sitze ich mich wie tausend von anderen asiatischen Frauen auf meinen Holzstuhl, um stundenlang, pausenlos meine zarte Haut wund zu reiben. Für was? Für einen lächerlichen Lohn, für ein menschenunwürdiges Leben. Luft wird verschmutzt. Wälder werden abgeholzt. Meere werden verunreinigt. Nur damit ihr die Massenware in den Modegeschäften zu Dumping-Preisen erwerben könnt. Warum? Warum muss ich leiden, damit ihr lacht?“
Ein eisiger Blitz durchläuft ihren kühlen Körper. „Plötzlich [wird] sie gewahr, daß [der Kapitän] ihren Blick [erwidert] und zwar so kriegerisch, so gerade ins Auge hinein, so offenkundig besonnen (…) den Blick des andern zum Abzug zu zwingen“, dass Sarah sich zum Handeln gezwungen sieht. Mit kräftiger Stimme spricht sie ihre Gedanken aus: „Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen! Unser Zielort ist ein Teufelskreis!“ Sie steht auf und läuft, bis sie vor dem Rettungshammer erstarrt. Ein letztes Mal wendet sie sich zu den Passagieren und brüllt: „Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht wir? Nur das Denken, das wird leben, hat einen Wert! Friede den Naturen! Krieg den Umweltverschmutzern!“
Ihre zittrigen Finger greifen nach ihm, dem Rettungshammer, und zerschlagen die abgedeckte Fensterscheibe. Immer stärker schlägt Sarah auf sie ein, bis sich die Splitter ergeben und zu Boden fallen.“ Und zum letzten Mal spricht sie zur Masse: „Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen.“ (Aristoteles)
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Autorin / Autor: Belinda Akel, 18 Jahre