„Da! Siehst du die Inseln?“, ruft Mona, genauso aufgeregt wie immer.
„Hmm“, erwidere ich. Natürlich kann ich sie nicht sehen, wenn Mona sich genau vor mein Fenster drängelt.
„Und das Wasser ist so türkis, findest du nicht auch?“, fragt sie begeistert.
„Hmm“, wiederhole ich. Sie versperrt mir nach wie vor die Sicht. Ich sage ihr, ich müsse mal schnell zur Toilette. Während ich durch die Kabine laufe, erhasche ich durch die Fenster einen Blick nach unten. Traumhaft sieht das Wasser aus, ich würde am liebsten direkt aus dem Flugzeug hinein springen. Zu Schade, dass ich noch ein, zwei Stunden warten muss, bis ich endlich durch dieses klare, ruhige Meer schwimmen, den weißen, feinen Sand an meinen Füßen spüren, den Anblick der grünen, rauschenden Palmen genießen kann… Ein Mann in Anzug und Krawatte mit wenig Haaren auf dem Kopf reißt mich aus meinen Gedanken.
„Sind Sie bereit für das Paradies?“, sagt er augenzwinkernd.
„Natürlich“, antworte ich lächelnd.
„Dort gibt es nichts als Ruhe und Frieden“, er blickt verträumt aus dem Fenster. „Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen.“
Anderthalb Stunden später landen wir. Ein Privatbus bringt uns bis zu unserem Hotel. Ich kann mich gar nicht sattsehen an der tropischen Natur, den Palmen und Blüten, den von Regenwald bedeckten Bergen und von weißen Sand gesäumten Stränden, den bunten, wunderschönen Vögeln, den großen, schillernden Muscheln. Im Hotel Anemona reicht man uns heiße, nasse Handtücher, die nach Eukalyptus duften.
„Herrlich, oder?“, sagt Mona und ich nicke. Unser Hotel liegt direkt am Meer und ich würde am liebsten sofort und ohne Umweg zum Strand gehen, aber Mona hält mich davon ab. Sie ist der Meinung, wir müssten uns unbedingt das Clubhaus ansehen, und ich verneine nicht, schließlich bezahlt sie ja den Urlaub. Beim Clubhaus bleibt es nicht, sie schleppt mich über Golf- und Tennisplätze, in Bars und Restaurants, durch Souvenirläden und Bekleidungsgeschäfte, zu Fitnessräumen und Wellnessbereichen. Ich habe selten so oft den Satz „Ist es nicht einfach wunderschön hier?“ gehört. Nach der thailändischen Ganzkörpermassage bin ich sicher, dass es nie aufhören wird. Doch tatsächlich findet Mona während des Yoga-Kurses, dass wir ja noch in der Sushi-Bar abendessen und uns danach von der Anreise erholen können. Ich willige erleichtert ein.
Auf dem Weg zu unserem Zimmer sage ich Mona, dass ich mir nochmal kurz den Strand ansehen will. Sie hat nichts dagegen, möchte aber selbst nicht mitkommen. Zum Glück. Wie eine Wilde renne ich zum Wasser und werfe mich vor Begeisterung in den Sand. Endlich kann ich alles machen, wovon ich schon im Flugzeug geträumt habe. Plötzlich fällt mir auf, dass ich gerade fast eine ziemlich große Krabbe platt gemacht habe. Ich springe sofort auf, denn ich habe Angst vor Krabben, obwohl sie mir ja im Grunde nichts tun.
„Die sind ganz schön groß, oder?“, sagt ein grinsender Typ in meinem Alter, der zufällig auch meine Sprache spricht und etwa drei Meter von mir entfernt sitzt.
Ich lache. „Ja, das stimmt.“ Mein Blick geht über den Strand. „Und ziemlich viele.“
„Diese Inseln sind berühmt für sie“, teilt er mir mit. „Sie leben nur hier.“
„Ach ja?“
„Ja. Wir befinden uns auf einer der artenreichsten Inselgruppen im Indischen Ozean“, erklärt er mit dem Wissen eines erfahrenen Naturforschers.
„Das wusste ich noch nicht“, erwidere ich. „Bist du deshalb hier?“
Er nickt. „Mir gefällt es, die Tiere und Pflanzen anzugucken.“
Ich muss schmunzeln. So jemand ist mir noch nie begegnet. „Dazu bin ich leider noch nicht gekommen“, gebe ich zu.
„Soll ich dir mal welche zeigen?“, bietet er mir an. „Am Wassersport-Center kann man sich Motorboote leihen und ich habe einen Führerschein.“
Ich nehme die Einladung erfreut an und befinde mich zehn Minuten später auf dem Meer. Paul, dessen Namen ich inzwischen kenne, macht mich auf verschiedene Inseln, das Riff unter uns und den Sonnenuntergang aufmerksam. Ich habe das Gefühl, zu fliegen. Wir sehen sogar Delfine, die fröhlich keckernd aus dem Wasser springen und durch waghalsige Loopings und elegante Schrauben eine Show für uns hinlegen. Auch eine Schildkröte hebt neugierig ihren Kopf aus dem Meer und blickt uns an. Ich genieße jede Sekunde in vollen Zügen.
„Wollen wir mal auf eine Insel?“, ruft Paul mir durch das Wellenrauschen zu.
„Klar!“, rufe ich zurück. Er zeigt mir verschiedene Inseln, wo wir anlegen könnten.
„Die da!“ Ich zeige auf eine strahlende, wunderschöne Insel, die wie aus der Raffaello-Werbung aussieht. Weißer Sand umrahmt sie, grüne Palmen wiegen sich im Wind, der Himmel über ihr ist rosa und orange durch die Dämmerung. Alles an ihr fasziniert sofort.
„Gute Entscheidung“, sagt Paul und steuert das Boot auf das Ziel zu.
Doch was ist das? Kleine, verschwommene Umrisse von irgendwelchen bunten Gegenständen, die beim Näherkommen immer schärfer werden. Wir springen aus dem Boot und ziehen es an Land. Ich sehe mich um. Kaum habe ich das Meer verlassen, befinde ich mich in einem anderen Meer. Einem Meer aus Plastiktüten und Trinkhalmen, ironischer Weise auch einer Raffaello-Verpackung. Wo ist das Paradies so plötzlich hin, indem ich eben doch noch völlig versunken war? Immer noch da, nur bedeckt von Müll. Mir wird klar, dass das unser Müll ist, es ist auch westlicher Müll, der bis hier her geschwemmt wird. Diese Erkenntnis und das alles hier trifft mich wie ein Blitz. Ich sehe das Hotelpersonal vor mir, wie es nachts heimlich den Müll von den Touristenstränden aufsammelt, damit nur das Paradies sichtbar bleibt. Ich sehe mich selber vor mir, wie ich als ahnungsloser Tourist zurückreise. Ich sehe die Schildkröte vor mir, deren zaghaften Blick zu uns ich für Neugier gehalten habe. War es vielleicht eher ein Vorwurf? Ich hebe die Plastiktüte meiner Lieblingsgummibärchenfirma auf. Habe ich diese Tüte vielleicht weggeschmissen, bevor sie hier gelandet ist?