Beobachten.
Das ist es, was ihn schon immer ausgemacht hat.
„Vielleicht wäre diese Welt anders, besser, wenn die Menschen es wieder lernen würden, mit offenen Augen durch ihre Umwelt zu laufen, wenn sie ihren Blick von dem strahlenden Bildschirm des Smartphones abwenden und auf die unglaublichen Schönheiten ihrer Umgebung achten würden“, hatte er einmal gesagt.
Damals hatte sein Kampf gerade erst begonnen. Ich erinnere mich an den Tag, als die Nachrichten von einem drastischen Rückgang der Insekten berichteten.
Erst hat er auf diese Nachricht kaum reagiert, sie mit einer solchen Abgestumpftheit betrachtet, dass ich gar nicht sicher war, ob er sie überhaupt gehört hatte. Für ihn war sie nicht sonderlich überraschend, denn er hatte die Natur beobachtet und bemerkt, wie leer die Wiesen doch geworden sind.
Und dennoch löste dieser Fernsehbericht etwas in ihm aus. Er packte all seine wichtigen Sachen in einen Rucksack und verließ das Haus. Kein Wort drang aus seiner Kehle. Keine Erklärung.
Er verschwand einfach.
Im Nachhinein bewundere ich ihn für diese Entschlossenheit. Heute weiß ich, dass er es getan hat, weil er entschied, nicht mehr tatenlos zuzusehen, sondern endlich zu kämpfen.
„Jeder, der auch nur halbwegs bei Verstand ist, weiß, dass es schlecht um unsere Natur steht, doch nur die wenigsten scheint es wirklich zu interessieren. Nur trägt nicht jeder, der nichts gegen dieses Unrecht tut auch eine Schuld daran?“, hatte er einmal gefragt.
Es war eine dieser vielen Fragen, auf die er gar keine Antwort erwartete.
Und trotzdem stellte er mir diese Frage erneut, als er nach über einem Monat anrief. Er verriet mir nicht, wo er in all der Zeit war oder wie er es hinbekommen hatte, mit den paar Gegenständen in seinem Rucksack zurechtzukommen. Aber er stellte mir diese Frage.
„Das größte Problem ist doch, dass die Menschen nicht zuhören“, hatte er gesagt, „Ich versuche mit ihnen zu reden und ihnen Möglichkeiten aufzuzeigen, mit denen sie einfach etwas verändern können, auch wenn es nur noch so klein ist. Ich sage ihnen, dass sie Wildblumen für die Insekten pflanzen können und bitte sie darum, dass sie das Laub aus ihrem Garten nicht in Plastiksäcke füllen, aber es scheint ihnen alles egal zu sein. Die Leute wollen es gar nicht hören. Wie sollen wir es denn schaffen, diese Welt zu retten, wenn es niemanden interessiert, wenn die Leute glauben, dass all die durch den Klimawandel verursachten Umweltkatastrophen immer nur die anderen treffen? Wieso verstehen sie denn nicht, dass jeder von uns jetzt etwas tun muss?“
,„Es ist nicht deine Aufgabe, diese Welt zu retten, das kannst du doch gar nicht schaffen“, gab ich zur Antwort.
Stille. Ich glaube, am liebsten hätte er mir in diesem Moment den Hörer ins Gesicht geschlagen.
„Es ist nicht meine Aufgabe?!“, hatte er mich angefahren, „Es ist sehr wohl meine Aufgabe, weil ich noch in dieser Welt leben will und es ist auch deine Aufgabe. Es ist die Aufgabe eines jeden einzelnen von uns.“
Ich denke, da habe ich das erste mal wirklich verstanden, worum es ihm ging. Er wollte sich nicht länger über überdüngte Felder oder mit Plastikmüll verseuchte Meere aufregen. Er wollte nicht länger auf den Helden warten, der uns alle aus dieser misslichen Lage befreit.
Zwei Monate später rief er mich wieder an. Diesmal riss er mich morgens um fünf Uhr aus dem Bett. An einem Samstag.
Er war aufgeregt, weil er beschlossen hatte, ein Buch zu schreiben. Seine Zeit hatte er damit verbracht, Leute aufzuklären, Müll aus den Wäldern zu sammeln, Organisationen zu gründen, aus denen er wieder austrat, weil er jemanden gefunden hatte, der viel besser für den Vorsitz geeignet wäre.
Ich weiß noch genau, wie ich mit dem Hörer in der Hand aus dem Fenster sah. Draußen war alles in das leuchtende Licht der aufgehenden Sonne getönt..
„Hast du überhaupt Internet, da wo du jetzt bist?“, habe ich gefragt.
Er hat mir nicht geantwortet. Vielleicht hatte er Angst, dass ich ihn finde und zurück nach Hause hole, aber das wollte ich gar nicht. Nicht mehr. Ich hatte eingesehen, dass er nicht glücklich werden könnte, wenn man ihn nicht kämpfen lässt.
„Weißt du, mein Problem ist einfach, dass ich dieses Buch schreiben möchte, um Leuten neue Wege aufzuzeigen, mit denen auch sie etwas gegen den Klimawandel, das Insektensterben, die Umweltverschmutzung und all das Zeug tun können“, sagte er etwas desillusioniert, „Doch werden nur die Personen zu diesem Buch greifen, die es auch interessiert, die, die vermutlich schon einiges über das ganze Thema wissen. Ich frage dich, wie schafft man es, dass auch andere sich dafür interessieren? Wie bekommt man es hin, dass auch diejenigen etwas verändern wollen, denen die Natur größtenteils egal ist?“
Ich konnte ihm keine Antwort geben. Stattdessen habe ich mich gefragt, ob ich dieses Buch kaufen würde, wenn ich ihn nicht kennen würde. Vermutlich nicht.
Ich habe mich zwar immer dafür interessiert, was in unserer Umwelt passiert, aber ich gehörte trotzdem zu den Personen, die eigentlich nicht wirklich etwas veränderten. Ich schob es von mir ab. Mögen doch andere diese Welt retten.
An jenem Morgen wurde mir bewusst, dass ich damit eine weit verbreitete Meinung vertrat. Nur leider ist diese Meinung nicht unbedingt richtig, egal wie häufig man sie antrifft.
„Und was hast du jetzt vor?“, hatte ich gefragt.
„Ich weiß es nicht“, entgegnete er, „Vielleicht bekomme ich es hin, ein Buch zu schreiben, das mehr Leute als nur entschiedene Umweltaktivisten anspricht.“
Er begann damit, das Manuskript für dieses Buch zu schreiben, doch auf Seite 253 hört es plötzlich auf.
Er hat seinen Kampf verloren. Ein Auto erfasste ihn.
So hätte mein Bruder nicht sterben dürfen, denn ich bin mir sicher, er hätte diese Person sein können, die die Welt verändert, auf die wir alle warten.
Aber er war es nicht.
Und so können wir wohl nur alle gemeinsam dieser Welt rettende Held sein, von dem wir so viele verschiedene Geschichten geschrieben haben.