Unfassbar

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Leonie Meisel, 15 Jahre

Seit ich klein bin liebe ich das Meer. Am Strand entlanglaufen, der Sand knirscht zwischen den Zehen. Kleine Muscheln und Korallenstücke funkeln in der Sonne. Ich baue Burgen. Paläste aus Sand, die ich mit den schönsten Muscheln schmücke. Dann kommt die Flut und holt sich ihre Schätze wieder. Ich kichere, während die Wellen über meine nackten Füße schwappen. Mein Kinderlachen klingt hell und unschuldig durch die kleine Bucht. Mein Rückzugsort.

Ich bin Kira. Inzwischen bin ich nicht mehr klein, sondern stolze dreizehn Jahre. Doch die kleine Bucht ist immer noch mein Schutzplatz, dort, wo ich mich vor allem verstecken kann. Ich lebe auf einer kleinen Insel, mitten im Pazifischen Ozean. Mein Vater ist Fischer. Jeden Tag fährt er mit seinem kleinen roten Boot hinaus aufs Meer. Wenn ich siebzehn bin, darf ich mitkommen, das hat er mir versprochen und ich sehne mich danach. Zweimal in der Woche verkauft Mutter dann die Fische und ich helfe ihr. Diese Arbeit ist mir zuwider. Ich sträube mich dagegen. Die toten Augen der Fische wirken kalt und seelenlos. Sie tun mir leid, wie sie da in der Sonne liegen und anfangen zu faulen. Ich kann sie nicht anfassen, will sie nicht anfassen und esse sie trotzdem. Wir haben ja nichts anders, Geld ist knapp. Immer denke ich, sie haben auch ihr Leben, ihre Familie, ihren Stolz.

Warum nehmen wir Menschen Leben, nur um unsere Wünsche und Bedürfnisse zu erfüllen?

Am Abend nach dem Markt ist die Stimmung drückend. Nur wenige Fische sind verkauft, der Rest rottet im Schuppen vor sich hin. Vater ist aufgebracht. Er beschwert sich über die Meeresverschmutzung. Seit Jahren finden sich immer mehr Plastikteilchen in den Mägen der Meerestiere. Immer weniger Leute kaufen unsere Fische. Bis jetzt habe ich nur von der Verschmutzung der Meere gehört. Von Papa und den Leuten am Markt. Es macht mich traurig, wütend. Der Ozean ist ein Ort voll Wunder und Leben. Ich liebe ihn.

Was gibt uns Menschen das Recht zu verschmutzen?

Wenn meine Gefühle durcheinanderpurzeln, gehe ich zu meiner Bucht. Dort kann ich meine Gedanken ordnen und mich beruhigen. Meine Bucht ist eigentlich ein kleiner Strand, der abgeschottet durch zwei Felsen, fünf Minuten von unserem Haus entfernt liegt. Nie verirrt sich ein Tourist oder Inselbewohner hierher. Ich liebe es im Wasser zu planschen, oder die kleinen Fische zu beobachten, die zwischen meinen Füßen hindurch flitzen und an meinen Zehen knabbern. Ich freue mich an den bunten glänzenden Leibern. Die Schuppen glitzern wie Juwelen, wenn das Sonnenlicht auf sie fällt. Die Kühle des Wassers und das Rauschen der Wellen lassen mich klar denken. Hier kann ich entspannen, ohne meine Sorgen und Ängste. Nur das Meer und ich.

Wird das alles bald zerstört sein?

Dorthin renne ich nun. Versuche die traurige Stimmung hinter mir zu lassen. Lange war ich nicht mehr hier, doch nun brauche ich Aufheiterung. Ich träume schon vom Meer. Ich springe auf die ersten Felsen, klettere in aller Hast nach oben. Meine Lungen lechzen nach salziger Luft. Endlich stehe ich oben. Mein Blick schweift über meine Bucht, erwartet vertraute Eindrücke. Ein Schrei entringt sich meiner Kehle. Der Wind peitscht mir scharf ins Gesicht, wie grausam ist doch die Realität. Tränen steigen hoch, strömen über meine Wangen. Ich merke es nicht. Meine Bucht ist mit Müll übersät. Mein Schutzort vernichtet. Tote Fische liegen auf dem Sand. Ihr Geruch steigt mir in die Nase, mir wird schlecht.
Wie kann es nur so schrecklich sein?
Ich springe hinunter in die Müllhalde, denn so erscheint mir nun alles. Ich schreie und tobe, wirble Sand auf und trete gegen Plastikkübel und leere Becher. Fege mit bloßen Händen scharfkantige Splitter beiseite. Ich spüre keinen Schmerz. Wut und Trauer haben meinen Körper taub gemacht, meinen Kopf leer. Nach einer Weile beruhige ich mich wieder. Ich hebe einen der großen Säcke auf und fange an Müll hineinzustopfen. Ich bin immer noch wütend, aber jetzt steht eine neue Frage in meinem Kopf.

Was kann ich tun?

Mehr Infos zum Schreibwettbewerb