Jemand musste Schmutzfin K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, hörte er eines Morgens das Meer nicht mehr rauschen. Die frische Brackwasserbrise von Mutter Natur, seiner Strandkorbvermieterin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Plastik aus den Augenwinkeln rieb, kam diesmal nicht. Das war noch niemals geschehen. K. rauchte noch eine Zigarette, sah von seinem Aschenbecher hinab zur alten Mutter Natur, die dort zwischen den glimmenden Stummeln im Sand lag und die ihn nun mit einer an ihr ganz ungewöhnlichen Neugierde beobachtete, dann aber, gleichzeitig ungelenk und leicht verschwitzt, warf er eine Konservendose in den Ozean. Sofort schäumte Gischt auf und eine Einsiedlerkrabbe, die er an diesem Strand noch niemals gesehen hatte, trat aus dem Meer. Sie triefte vor Salzwasser, trug ein gelbes Kleid, das ein wenig den gelben Säcken von der Stadtreinigung ähnelte, verschiedene Pfandflaschen um die Scherenarme, eine Biotonne vor dem Maul, einen gewaltigen Glascontainer als Rückenpanzer, Altkleiderkisten an den Füßchen und eine Sondermüllbox für gebrauchte Batterien im Schritt was infolgedessen, ohne dass man sich darüber klar wurde, wozu es eigentlich dienen sollte, ziemlich praktisch erschien.
"Was bist du?", fragte K. Und kurbelte die Rückenlehne seines Strandkorbs in eine halb aufrechte Position. Die Krabbe aber ging über die Frage hinweg, als müsse man ihre Erscheinung hinnehmen, und fragte bloß ihrerseits: "Ist es vorbei?"
"Ich würde behaupten, es fängt gerade erst an", sagte K. und versuchte zunächst leutselig durch zynischen Sarkasmus festzustellen, ob dieser ulkige Clown ihm untertan werden könnte. Aber dieser setzte sich nicht allzu lange seinem abfälligem Grinsen aus, sondern wandte sich zum Ozean, um jemandem, der offenbar knapp unter dem Meeresspiegel schwamm, zu sagen: "Er glaubt er darf noch Witze machen." Ein dumpfes Gelächter unter der Wasseroberfläche folgte, es war nach dem Klang nicht sicher, ob nicht mehrere Wesen daran beteiligt waren. Trotzdem die fremde Krabbe dadurch nichts erfahren haben konnte, was sie nicht schon früher gewußt hätte, sagte sie nun doch zu K. im Tone einer Meldung: "Es ist vorbei."
"Das wäre neu", sagte K., rollte aus seinem Strandkorb und zog rasch die Hosen aus. "Ich will doch sehn, was für Viecher da noch im Wasser schwimmen und wie Mutter Natur diese Frechheit mir gegenüber verantworten wird." Es fiel ihm zwar ein, dass er gar nicht schwimmen konnte und dass er dadurch gewissermaßen ein Beaufsichtigungsrecht der Krabbe anerkannte, aber es schien ihm jetzt nicht wichtig. Immerhin fasste es die Krabbe so auf, denn sie sagte: "Wollen sie nicht lieber sitzenbleiben?"
"Ich will weder hier sitzenbleiben noch weiter belästigt werden, solange du hier nicht für ein bisschen Meerbrise sorgst."
"Es war gut gemeint", sagte die Krabbe und trat dann freiwillig zur Seite.
Der Ozean, in den K. langsamer hineintauchte als es ihm lieb war, sah auf den ersten Blick fast genau so aus, wie im Sommer zuvor. Es war die brackige Ostsee der Mutter Natur, vielleicht war in diesen mit Zigarettenschachteln, Glasscherben, Kondomen und Schnapsflaschen überfüllten Wellen heute ein wenig weniger Raum als sonst, man erkannte das nicht gleich, um so weniger, als die Hauptveränderung in der Anwesenheit eines Schweinswals bestand, der in einem halb verkoltem Autoreifen feststeckte mit einer Öllache über dem Körper, durch die das Tier nicht richtig atmen konnte.
"Sie hätten in ihrem Strandkorb bleiben sollen! Hat es Ihnen denn Fransch nicht gesagt?"
"Ja, was nuscheln sie denn so?", fragte K. und sah von dem röchelnden Schweinswal zu dem mit Fransch benannten Scherentier, das noch am Strand stehengeblieben war. Durch das große Knäuel an Plastik im Wasser erblickte man wieder die alte Natur, die mit wahrhaft waschbärhafter Neugierde Schmutzfin K. beobachtete, ohne Anstalten zu machen, das Meer wieder zum treiben bringen zu wollen.
"Ich will doch nur Meeresrauschen –", sagte K., machte eine Bewegung, als schlüge er wütend durchs Wasser, riss sich dabei den Arm an einer Kupferspule auf und bekam Tetanus.
"Nein", nuschelte der Schweinswal durch die Ölfäden aus seinem verklebten Kiefer, er versuchte sein Maul weiter zu öffnen, um deutlicher zu sprechen, doch mehrere Möwen klebten in seinem Teerrachen und kreischten nun laut. "Es gibt kein Rauschen, es ist vorbei."
"Es sieht so aus", sagte K. "Und wann geht es wieder los?" fragte er dann.
"Wir sind nicht dazu bestellt, Ihnen das zu sagen. Gehn Sie in ihren Strandkorb und warten Sie dort. Der Witz hat nun mal seine Pointe erreicht und leider hat niemand drüber gelacht."
K. wollte sich setzen, aber nun sah er, dass am ganzen Strand keine Sitzgelegenheit mehr war, außer dem Strandkorb, der in der sengenden Hitze bereits zu Staub zerfallen war.
"Sie werden noch einsehn, wie wahr das alles ist", sagte Fransch und krabbelte gleichzeitig mit dem Schweinswal auf K. zu. Besonders der letztere überragte K. bedeutend und patschte ihm öfters mit der Flosse auf die Schulter. Beide überprüften den Rhythmus von K.s Herzschlag und versicherten ihm, dass er sich wohl in Zukunft mit einem viel schlechteren Rhythmus zufriedenstellen müsse, dass sie aber sein Herz wie auch seine ürbigen Organe aufbewahren und, wenn seine Bluttests günstig ausfallen sollten, verzehren könnten, damit Mutter Natur wenigstens noch in geringfügigster Weise von K.s Leben profitieren konnte. "Es ist besser, sie geben die Sachen uns als ins Depot", sagten sie.
Schmutzfin K. achtete auf diese Reden kaum, legte sich zurück in die Asche seines Strandkorbes, gähnte ausgiebig und steckte sich seine letzte Kippe an. Er neigte stets dazu, alles möglichst leicht zu nehmen, das Schlimmste erst beim Eintritt des Schlimmsten zu glauben, keine Vorsorge für die Zukunft zu treffen, selbst wenn alles drohte. Und wenn er sich das brennende Ende seiner Zigarette nur dicht genug ans Ohr hielt, dann klang es doch fast so genauso wie das Rauschen von Meer.