Bunte Wiesen, dichte Nebel
Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Marvin Vies, 24 Jahre
Wie wunderbar ist das Wandern im Walde. Wie wunderbar die Wege, oh die angelegten Wege, wie sie leiten, führen und einander begegnen lassen, auf dass man niemals wieder allein wandern muss, auf dass Verborgenes verborgen bleibt. Und wie wunderbar die Bäume, wie sie zugeschnitten, in Reih´ und Glied gen Himmel ragen, ja vollends die wilden Wucherungen durch eine wohlig kreierte Symmetrie ersetzt wurden. Nie wieder wird das Chaos in den Wäldern herrschen.
Auch gibt es hier keine Tiere mehr, die dem Menschen Böses antun könnten. Der Wolf wurde verbannt, der Bär zerschossen und der Fuchs aus seinem Bau vertrieben, sodass sich auch der ängstlichste Erdenbürger sicher in der Natur fühlen kann. Nur Vögel und Insekten gibt es, wie sie erregt ihre Balztänze vollführen, fröhlich von Busch zu Baum flattern, oder auf bunten Blumen landen und allerlei anderem Buntem im Gras, allerlei Verpackungen einstigem Süßen, Dosen der köstlichsten Limonaden oder Resten von Zigaretten in einem Braun oder Weiß, manchmal mit den Verzierungen eines Lippenstifts versehen. Alles riecht herrlich nach Verlockung, nach Rost und Schwefel, nach Verwesung.
Den Flüssen wird Einhalt geboten, auf dass sie den Menschen nicht gefährden und ihr Ufer nicht übertritt: „Nicht doch! Besser wär´s du trocknest – gut so und erfülle uns mit deinem Glanz aus Öl und Benzin.“, rufen die Retter und auch die Biber und das Rotwild dürstet es nach dem Gift der Gewässer. Es ist die Gewohnheit, die hier greift.
Und auch der Mensch gewöhnt sich an diese Natur, wenn er beunruhigt Nebelschwaden in der Ferne aufsteigen sieht, eine drohende Katastrophe vermutet, doch beim Nähertreten ganz beruhigt feststellt, dass doch nur das örtliche Atomkraftwerk seine Arbeit verrichtet. Großartig ist der Duft nach Abgas und Tod.
„Schön ist die Natur!“, sagt Herr Müller und steckt die Hände zufrieden in die Hosentaschen beim Betrachten derselben. „Schön, dass der Mensch hier wirkt.“, fügt er wissend hinzu.
Aus dem Dickicht ertönt ein Schrei. Wie ein letztes Wimmern hört man Flüche des Schmerzes, Flüche der Verzweiflung. Niemand wird sie hören. Nicht, weil niemand möchte, sondern weil niemand kann. Traurig verstummen die Schreie schon, trauernd vergeht die Stimme der Natur.
„Ein Hoch auf den Menschen, ein Hoch auf die Natur!“, spricht Herr Müller beim Anblick der Tristesse.
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Autorin / Autor: Marvin Vies, 24 Jahre