Baustelle

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Carolin Mackert, 22 Jahre

Das Mädchen ist schon vier Jahre alt. Mit einer ihrer zierlichen Hände den Roller festhaltend, sieht sie an sich hinunter, wobei sie die Anwesenheit ihrer Mutter auf der anderen Straßenseite bereits vergessen zu haben scheint. Merkwürdig sieht es aus, ihr blaues Kleid. Mit konzentrierter Mine fährt sie mit ihrer freien Hand über den ausgefransten Stoff und kratzt schließlich am Ende des Saumes an einem großen, eingetrockneten Fleck herum. Einige ihrer Haarsträhnen haben sich aus dem einst sorgsam geflochtenen Zopf gelöst und verleiten sie hin und wieder dazu, diese vergeblich aus ihrem blassen Gesicht zu streichen. Das Mädchen schwitzt.

Als sie den Kopf hebt, schweift ihr Blick die Straße entlang, bis sie den Augenkontakt ihrer Mutter zögerlich erwidert. Die Mutter lächelt ihr aus der Entfernung des Gartens zu, wobei der Rest ihres Gesichtes reglos bleibt. Mit dem Wasser einer grünen Plastikgießkanne durchnässt sie das Blumenbeet. „Du bist wunderschön, Liebes. Auch wenn du dich veränderst.“ Für einen Augenblick lang ist es still. Als hätte das Mädchen nicht verstanden, kehrt ihre Aufmerksamkeit wieder zurück auf den Weg vor sich und sie greift mit beiden Händen fest um den Lenker ihres Rollers. Da stößt sie sich vom Bordstein ab. Gern fährt sie in der Mitte der Straße, auf den weißen Streifen, dort wippt der Roller so schön hoch und runter. Mit größter Kraft wirft sie ihren Fuß vor sich, um den nötigen Schwung zum Abstoßen zu bekommen und ihr Tempo zu steigern.
„Liebes, fahr‘ doch vielleicht ein bisschen langsamer, ja?“
Die Mutter stellt die Gießkanne ab. Doch das Mädchen hört sie nicht mehr.

Baustelle. Am Ende der Straße versperrt ein Plastikband den Weg, daneben drei Schilder. Hinter dem Band senkt sich ein tiefes Loch in den Asphalt. Ab hier nicht weiter. Gefahr! Eltern haften für ihre Kinder.
Aber das Mädchen hat den Kopf Richtung Boden geneigt, konzentriert darauf, den Roller genau auf die Streifen zu lenken, während sie auf das Loch der Baustelle zurast. So wird die Straße zum grauen Fließband, schnell durchbrochen von weißen, gleichmäßig auf- und abblitzenden Balken. Wenn es ihr doch gelingen würde, den Vorderreifen konstant auf der durchbrochenen Linie zu halten. 

Sie ist schon vier Jahre alt, denkt sich die Mutter. Noch immer winkt sie ihr nach. Wie schön das Mädchen fährt, so anmutig und konzentriert, so voller Leben. Eine große Zukunft liegt ihr bevor. Während die Mutter ihre Tochter beobachtet, erfüllt sie ein wohliges Gefühl, ja auch Stolz. Alles hat sie getan für das Wohl ihres Kindes, alles ist sie bereit dafür zu tun, schließlich gibt es kein Kind B. Zufrieden wendet sie sich ab. Als sie die Haustür hinter sich schließt, fällt ihr auf, dass sie die Gießkanne im Garten vergessen hat.

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