Ludwig Mranzk: Erinnerungen & „Auszüge eines verstrahlten Hirns“

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Annika Böttcher, 19 Jahre

Vorige Woche stand in einigen Zeitungen geschrieben, ein junger Mann von 26 Jahren, ein wahnsinniger Wissenschaftler, habe sich bereit erklärt, Ausrisse seines Hirns sezieren zu lassen, um der Welt eine selbstmodellierte Zukunft zu geben und die allgemeinen Haltlosigkeiten zu verstärken. Er war ein Aufrührer. Seit geraumer Zeit nämlich kursieren Gerüchte, er habe den Eingriff nicht überlebt. Und um Sie, hochgeschätzte Leser, nun ein wenig über die aktuelle Lage unserer Welt aufzuklären, hat die Redaktion Ihnen einige der neuesten Forschungsergebnisse auszugsweise zusammengestellt.

Ich hoffe, Sie werden sich ein ausführliches Bild unserer Gegenwart machen können. Systeme wie die der Natur existieren übrigens nicht mehr, jegliche biologische, chemische, physikalische und sonstige sogenannte „natürliche“ Abhängigkeiten existieren nicht mehr, aber das nur am Rande. Die Geschichte der Menschheit ist eine andere. Ach!, und das ist unleicht zu erkennen, aber selbstverständlich sind wir nicht jene abstoßenden Wesen aus Fleisch und Blut, die einst unsere Geschichtsbücher verhunzten, alles besteht aus einem neuen Stoff und wir nannten ihn Skrienietuß. Einige Dinge müssen offensichtlich geklärt werden:

(1) Ausschnitt aus der Rede an […] zu empfangenen Gästen der neueren Modellierungsforschungen, Juni 2020, Lisbeth Mangold (geb. 1911 als Leopold Mangold, Ironikerin, Modellierungsforschungsbeauftragte der selbstlosen Regierung, Weltvernichtungsabteil 912.3AX):

„,[…] Ich glaube, eines Tages werden wir künstliche Pflanzen haben. Und die ganze Welt wird jammern, aber schließlich gewöhnen sich ja doch wieder alle dran und dann ist es ganz schnell Normalität. Und ich werde sagen können: „Ich habe es gewusst!“ und den ganzen Aufriss um die ganze Sache nicht verstehen. Das ist eigentlich das Beste. Einmal behauptet haben zu können, etwas gewusst zu haben. Das Recht und die Macht. […] und darauf kommt es an im Leben. Darauf kommt es an in meiner Welt von morgen.‘, so dröhnte es, schallte, die Gänge, entlang. So streckten die Töne sich nach allen Richtungen, zerrissen Illusionen und Dankbarkeitsgelübde der Schein-Gläubigen in Paris.“

(2) […] Zitate der Vorsitzenden und einiger ihrer Anhänger des Meinungsdeformationszentrums, 2008, entnommen der 12. Schublade der rechten Kammer, unbekanntes Abteil der Einheit der Gedanken 772.90CY):

„Eine Tüte Lieblosigkeiten, Kasse 743, bitte, meine Damen, meine Herren, meine Kinder, Freunde, sind wir schon lang keine mehr, berühren Sie sich nicht, Achtung!“, „Sie träumen noch? Wartezimmer, oben, unten, dritter Gang, 17. Stock, ja, die Kathedrale wird eingerissen, hängen Sie Ihren Glauben hier an den Haken auf, jawoll.“, „Im Falle, dass Fremdworte wie Umwelt mitgeführt werden, es gibt Leinen, ja, 17 Knoten, Anleitung, ja, eventuelle Warnschüsse auf Augenhöhe, ja! Geben Sie Ihre Modellierungscodes ein, […] akute Formationsgefahren, zurücktreten […], reihen Sie sich ein, wo es heißt, du verlierst dich selbst, nein, Sie erhalten keine Gegenleistungen, die Dankbarkeiten wurden erfolgreich eliminiert.“

(3) Verschriftlichte Gedanken über die Machtbestrebungen vom Verstrahlungsinternat zur Zeit der Illegalisierungen, September 1969, gerade zugeführtes Dokument des Departments der Fernen Träume, klammern:

„Wir werden unsterblich sein. Wir werden - endlich – unsere eigenen Götter sein. Wir werden […] neu denken. Die ganze Welt ist ein einziges, gigantisches Modell. Wer hat behauptet, dies ist unser aller Wirklichkeit? Es gibt ja schon Geschlechtsangleichungen, Transplantationen von Teilchen, die magnetische Felder aufspüren können, Zehen, die zu Fingern geformt werden und umgekehrt. Menschen können Hormone schlucken und sie werden ein anderer. Und so wird es mit der Welt gehen. Eine andere.“

(4) Bibel der neuen Welt von übermorgen, November 7098, Anastasia Lange (geb. 77. Jhr., Geschlechtsforscherin und erste Skrienituß-Angeglichene, betet heimlich zur effektiven Abwehr zwischenmenschlicher Emotionen) Abteilung der Aufhebung von Natürlichkeit, Raum JK 189/22:

„Nummerieren Sie Ihre Kinder. Weibchen XY, Männchen XX, Vernichtung allen cis-Gedankengutes. Transformation aller geschlechtsgebenden Organe, Betonierung von Niere, Ausschabung der verbleibenden Seen und sonstiger Gewässer. Kommentare an die Abteilungen Weltvernichtung und Brodem: Warten auf Ihre Sitzungsprotokolle bis zur endgültigen, allgemeinen Auflösung des Gefühls, aktueller Zeitstand: 17 Minuten, 23 Sekunden. Aufforderung an Lisbeth Mangold: Hauttransfer abholen, ihre erneuerte Lebenszeit beträgt 99 Jahre, wenige Stunden vor Ablauf schlucken Sie das Anti-Harmonisierungskonzentrat zur endgültigen Zerstörung allen Wissens um Farben, Klang, innere Empfindungen, Gefühl der Schutz- und/oder Heimatlosigkeit; […], wir sind noch beschäftigt mit Rekreationen des aerisierten Ernährungsstromes, ja, Transplantationen erfolgen, ja, selbstverständlich, ja, deformierte Figuren auf dem Brett, nein, ja […] Die Arche befindet sich auf der Umlaufbahn unseres Planeten ZGL 4479, bitte beachten Sie den Abstand zwischen der Plattform und den Möglichkeiten einer Zukunft.“

(5) 26 Jahre junger Mann, der sein Leben gab, um sich der Hirnforschung verstrahlter Idioten anzuschließen, klärt in den letzten Augenblicken seines – vermutlich – klaren Verstandes weniger auf als dass er verwirrt:

„Guten Tag, ich bin Peter, 176 cm hoch, trage eine Nickelbrille, Balletschuhe, Tütü, habe eine Glatze und einen Schnauzbart und verstehe nicht, weshalb ich mich unsichtbar fühlen muss. Aus diesem Grund (einem Schmerz, einem Hass, einer Leidenschaft) widmete ich mich während der kurzen Dauer meines nicht allzu klassischen Lebens der Herstellung eines Stoffes, der jede Stofflichkeit des Planeten Erde ersetzen möge. So soll es mit mir geschehen. Amen.“


*Dieser Artikel wurde verfasst von der Redaktion des Lieblichen Boten der Hoffnungslosigkeit,
Berlin, 05. Dezember 2018. *

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Autorin / Autor: Annika Böttcher, 19 Jahre