Die Sonne ging schon unter, als ich vom Apfelbaum hinunterstieg. Sprosse um Sprosse mühten sich meine Beine ab; in Gedanken spürte ich schon die weiche Decke meines Bettes. Schon seit Tagen hatte ich mit Schmerzen zu kämpfen, doch bald würde ich mich wieder daran gewöhnt haben.
So wie jedes Jahr im Frühling arbeitete ich auf einer Apfelplantage im Alten Land als Blütenbestäuberin. Den Rest des Jahres verbrachte ich mit meinem Studium. Mein Ziel war die Welt zu verändern, sie zu einem besseren Ort zu machen. Manchmal wäre ich gerne in der Zeit zurückgereist. Dahin, wo noch niemand die Pflanzen bestäuben musste, sondern Bienen diese Arbeit übernommen haben. Meine Oma erzählte noch wie gut Honig schmeckt und welche Gerichte man damit alle kochen konnte. Ich hätte das auch gerne gewusst.
Doch genug jetzt von der Schmärmerei in der Vergangheit, ändern tut sich dadurch ja auch nichts. Jetzt bin ich an einem anderem Ort zu anderer Zeit. Inzwischen bin ich die Oma, die Ihren Enkel von der alten Welt erzählt.
Zurück zu meinem damaligen Nebenjob, dem Blütenbestäuben: Seit dem Aussterben der Bienen hatte jeder Erdbewohner die Pflicht, fünf Jahre seines Lebens Blüten zu bestäuben. Ich tat dies nach der Schule, aber es gab auch Ältere, denen haben wir die niedrigen Bäume überlassen. Einmal hatte eine alte Dame einen Herzinfarkt oben im Baum. Ihr konnten wir nicht mehr helfen. Solche Vorfälle gab es oft, weshalb unser Chef neue Maschinen zum Bestäuben der Blüten entwickeln ließ. Das waren Spezialrobotor mit Fühlerarmen und intelligentem System. Leider gab es beim Test ein Problem: Statt die Pollen sauber zu verteilen, wurden die Blüten derartig beschädigt, dass wir froh sein konnten, wenn die Pflanzen überlebt hatten. Da die Maschinen offensichtlich versagt hatten, wurde das „Program for the Conservation of Flora and Fauna on Earth“ (PCFFE) fortgesetzt. Das bedeutete für mich weitere drei Jahre auf der Apfelplantage.
Aber es sollte anders kommen. Besagtes Studium handelte von Luft- und Raumfahrttechnik. Mein damaliger Professor erforschte neue Wege, den Weltraum zu nutzen. Bisher schwebten vor allem Satelliten, Raumfahrtschiffe, Forschungsstationen und die ISS im All herum. Dies änderte sich in kürzester Zeit. Während ich noch für Klausuren lernte und mit allen möglichen Medikamenten versuchte meine chronischen Schmerzen, die ich seit dem Job als Blütenbestäuberin hatte, zu lindern, plante nun dieser Professor Humphrey sein nächstes Projekt. Er erzählte keinem seiner etwa 80 Studenten davon, sodass uns seine Offenbarung völlig überraschte. Es war einer der wenigen Momente meines Lebens, in denen ich wirklich sprachlos war. Dieses Projekt, „Tetrax309“ genannt, stellte nicht nur mein Leben auf den Kopf, sondern das Leben und die Zukunft der gesamten Menschheit.
Prof. Humphrey erklärte uns „Tetrax309“ so:
„Nachdem die Menschheit in der Vergangheit viele Fehler gemacht hat; sich beinahe selbst zerstört hätte, liegt es nun in unserer Hand, die Auswirkungen dieser Fehler so gut wie möglich zu begrenzen. Manche Schäden, die wir durch den verantwortungslosen Umgang mit der Natur verursacht haben, lassen sich nicht mehr beheben. Dazu zählt das Aussterben vieler Tier- und Pflanzenarten, wie Bienen, Eisbären und Algen. In den letzten Jahren haben wir zwar einiges für eine Verbesserung der Situation getan, aber nicht genug. Zwar kann nun Plastik von Mikrolebewesen recycelt werden, für die Papierherstellung werden keine Bäume mehr benötigt und Strom wird ausschließlich aus regenrativen Energien erzeugt, aber ein wichtiger, letzter Schritt fehlt noch: die Beseitigung der anthropogenen Schadstoffe auf der Erde.“
Was ziemlich vielversprechend klang, entpuppte sich als eine Art Experiment der besonderen Art. Die sogenannten Schadstoffe waren Treibhausgase, die über Jahre von den Menschen in die Luft gepustet wurden und immer noch das Klima belasteten.
Prof. Humphrey zählte dazu allerdings auch die Gase, die fortlaufend von Menschen innerhalb ihres Lebens produziert werden. Es galt der Merksatz: Keine Menschen, keine Umweltbelastung. Keine Umweltbelastung, keine Probleme. Doch statt die Menschheit zu einem kollektiven Selbstmord anzustiften, sollte stattdessen ein Teil der Menschen umquartiert werden. Das war ein Part von „Tetrax309“. Der andere bestand darin, die vorhandenen Abgase zu sammeln und hochkonzentiert ins All zu schicken. Weder die eine, noch die andere Idee fand ich damals realistisch umsetzbar. Trotzdem machten wir, also meine Kommilitonen und ich, uns an die Arbeit.
Gestartet haben wir mit dem aus unserer Sicht einfacheren Teil: schädliche Abgase aus der Luft zu filtern. Wir entwickelten ein Verfahren, dass aus der Umgebungsluft Kohlendioxid, Methan und weitere Treibhausgase extrahiert. Dazu wurde ein extrem gekühlter Raum durch Kolben hoch verdichtet, ähnlich wie das beim damaligen Ottomotor eines Autos mit dem Luft-Gas-Gemisch gemacht wurde. Durch die niedrige Temperatur (annähernd 0° Kelvin) schichteten sich jedoch die einzelnen Bestandteile der Luft in Lagen. Die Lage der schädlichen Gase konnte nun mit einem Zusatzmittel chemisch gebunden werden. Darauf folgte eine hohe Verdichtung, sodass eine Flüssigkeit entstand, die wir in große Tanks füllten, welche mithilfe von Raketen in den Weltraum befördert wurden. Das ganze geschah natürlich nicht von heute auf morgen. Es waren viele Versuche und Testdurchläufe gemacht worden. Dass wir diese Lösung schon nach einem Jahr hinbekommen haben, lag nur an der hervorragenden Vorarbeit von Prof. Humphrey. Ihm verdanke ich auch, dass ich für meine Arbeit an „Tetrax309“ vom PCFFE freigestellt war.
Aus späterer Sicht interessanter war jedoch das zweite Experiment: Da es die Erde nun mal nur einmal gab und die Menschen weit mehr Ressourcen verbrauchten als vorhanden waren, gab es nur zwei Optionen: Entweder die Erde zu klonen, was utopisch war, oder einen anderen, zusätzlichen Lebensraum für die Menschen zu schaffen. Wir beschränkten uns dabei auf den Weltraum. Andere Forscher hatten in früheren Jahren bereits versucht, riesige, unterirdische Kellersysteme zu bauen. Das scheiterte aber an den Kosten, den voraussichtlichen Umweltschäden und der Sicherheit.
Das Projekt, welches wir planten, sollte langfristig, zeitnah und global werden.
Variante 1 (die verworfen wurde): Mehrere städtegroße Raumstationen ins All schicken, auf denen dann Menschen über einige Jahre leben können. Problem: Materialverfügbarkeit, Kosten, Auswirkungen der andauernden Schwerelosigkeit auf die Menschen, Lebensmittelversorgung
Variante 2 (die ebenfalls verworfen wurde): einen erdähnlichen Planeten bewölkern, als eine Art Erde 2.0. Problem: Entfernung (Fahrtdauer mehrere Millionen Lichtjahre), Kosten, Bereitschaft der Bevölkerung mitzumachen, Lebensmittelversorgung, Überleben auf einem fremden Planeten
Variante 3 (finale Lösung): Leben auf dem Mars. Probleme: zu vernachlässigen
Der Mars wurde lebensfähig gemacht, indem eine künstliche erzeugte Atmosphäre um den Planeten gespannt wurde. Dies geschah mit mehreren Spaceshuttles und einem motorisierten Netz, das sich im den Mars legte mit einem Abstand von mehreren Kilometern. Spezialhäuser mit Notfallsauerstoff, Stromgeneratoren und Schutzanzügen wurden gebaut. Außerdem ein großes Gewächshaus mit widerstandsfähigen Pflanzen, die den veränderten Bedingungen Stand hielten. Nun sollten die ersten Menschen den Mars bevölkern. Als Versuchsgruppe dienten wir Studenten. Mit der Zeit wurden immer mehr Menschen zum Mars geschickt, wo sich inzwischen die Atmosphäre stabilisiert hatte und wir uns auch außerhalb der Gebäude aufhalten konnten.
Nach fünf Jahren schafften wir es sogar Bienen zu kultivieren. Diese Bienen gediehen in den Bedingungen des Alls offenbar besser als auf der Erde. So war es kein Problem, in großem Stil auch die exotischsten Früchte anzubauen.
So kam es, dass der Mars heutzutage nicht mehr nur ein Ableger der Erde ist, sondern beinahe gleiche Bedingen herrschen und ein reger Austausch zwischen Erde und Mars stattfindet. Viele Leute sehen es als Pflicht an, einmal im Leben zum jeweils anderen Planeten zu reisen.
Ich habe die Erde nie vermisst und hoffe, dass ich hier auf dem Mars einen glücklichen Lebensabend verbringen kann – zusammen mit meinen Bienen im All.