Dhaka, Bangladesh
Eine junge Frau, versteckt zwischen den Schatten einer Fabrikruine. Es war ihr Zuhause, dieses rußgeschwärzte Gebäude mit den verkohlten Erinnerungen, ihr ganzes Leben lang. So viele hat sie gehen sehen, mit eingefallenen Gesichtern und verhärmten Körpern, aber der Abschied von dem alten Gebäude fällt ihr am schwersten. Sie hat die Bindungen aufgegeben, hat damit aufgehört, den Neuankömmlingen ihre vernarbte Hand zu reichen. Die Stolzen, die kommen, die mit den zarten Fingern, gehen gebrochen nach nur wenigen Stunden. Die Fabrik, ein Gefängnis für Menschen wie sie, in dem eine Flucht in ein besseres Leben den Tod bedeutet. Die blutenden Finger waren nie ein Problem, und die steifen Muskeln hat sie nach ein paar Nächten auf dem Steinboden auch vergessen. Aber jetzt ist ihre Lunge voller Staub, schwarz vom Gift und vom Feuer, das ihr Zuhause genommen hat. Die anderen Frauen und Kinder, die, denen das Feuer das Leben genommen hat, wie ihr Auftraggeber das Geld der Reichen, die hat sie bereits vergessen. Ihre Gesichter sind weitere Narben, gut versteckt in ihrem Inneren. Ihr Kopf ist leer, sie weiß schon nicht mehr, wie das Gesicht ihrer Nachbarin aussah, das des mageren Kindes, das neben ihr seine staubigen Tränen in den weichen Stoff ein eingenäht hat.
Der Brand hat auch ihr das Leben genommen. Nicht den Atem, aber alles was sie ihr eigen genannt hat. Es war ein schlechtes Leben, aber ohne ist sie noch schlechter dran.
Oslo, Norwegen
Ein kleines Mädchen läuft durch die Straßen, mit wehendem rotem Mantel und ganz grau um die Nase. Wo ihre Mutter ist, hat sie vergessen, die Erinnerung vergraben unter den grauen Wolkenbergen, die alles sind, was sie sieht, wenn sie in den Himmel schaut. Sie hat vergessen, wie die Sonne aussieht und auch, wie sich frische Luft in ihren Lungen anfühlt, Schnee auf der Haut oder Gras unter den Zehenspitzen. Grün hat sie schon lange nicht mehr außerhalb des Flimmerbildschirms gesehen. Draußen gibt es nur noch den grauen Staub und die Wolken, die seit Jahren unverändert über der Stadt hängen. Aber der Mantel ist von Prada, und Zuhause im Schrank hängen noch mehr davon. Sie weiß nichts von den Kindern in Bangladesh, deren Tränen im Stoff ihrer Jacke hängen. Sie wollte doch nur sein wie die anderen, die sie auf dem Bildschirm ihres buchdeckelgroßen Smartphones beobachtet hat, deren Leben ihr eigenes ersetzt haben. Also hat sie eintausend Kleider im Schrank, und das nächste ist schon unterwegs, mit einer Spur aus Co2, die an den luftigen Ärmeln haftet. Nur die Tränen der anderen verstauben in ihrem Stand, denn wozu zweimal dasselbe tragen, wenn sie doch stündlich wechseln kann?
London, England
Das Fastfood Restaurant ist überfüllt, Menschen mit Schweißrändern an den billigen T-Shirts und fettigen Fingern von den Hühnern aus Massenhaltung, die ihre Form in ihren gierigen Fingern vollends verloren haben. Schneller, weiter, billiger. Ein junger Mann hinterm Tresen, ganz frisch eingestellt und schon überarbeitet. Ganz grün im Gesicht reicht er dem nächsten eine Tüte, triefend vom Friteusefett, das den Geruch der hundert anderen Tiere überdecken soll, die ein Schicksal teilen. Die Frau lächelt, packt ihre Bestellung aus und beißt genussvoll hinein. Der Mann hinter dem Tresen eilt zur Toilette und erbricht sein Frühstück. Der Zeitungsartikel vom Morgen liegt im noch immer schwer im Magen, die Bilder von winzigen Käfigen und zusammengedrängten Körpern hängen noch immer wie Rauchschwaden in seinem Kopf.
Berlin, Deutschland
Ein alter Mann sitzt auf einer Parkbank. Seit Tagen schon hat er sich nicht mehr von der Stelle gerührt. Genauso lange steht die Sonne bereits am Himmel. Sie verbrennt seine Halbglatze und das braune Gras zu seinen Füßen. Er erinnert sich. An grüne Sommer und solche, in denen der Regen die Sorgen fortgeschwemmt hat. Er erinnert sich. An den ersten heißen Sommer, in dem der Regen ausblieb und den sie als perfekt beschrieben. An den zweiten Sommer ohne Wasser, der sich die Bezeichnung Glückssträhne aneignete. An den dritten Sommer, dem der fade Geschmack einer trockenen Kehle anhaftete. Nun ist es November, aber der Sommer ist noch immer da. Noch immer halten sich die Wolken versteckt und die Sonne verbrennt die Straßen. Er wartet. Wartet auf das Ende, das er so sehnlich erwartet, noch mehr als er den Regen erhofft.
Santa Barbara, Kalifornien
Eine Frau mit faltigen Händen kniet am Strand. Unter ihren zittrigen Fingern nimmt ein junger Blauwal seinen letzten Atemzug. Das Plastik in seinem Magen vergönnt ihm keinen angenehmen Tod, es lässt ihn langsam dahinsiechen. Die Frau nimmt seine kühle Schnauze in ihre warmen Hände. Er wehrt sich nicht, lässt es geschehen. Eine stumme Träne rollt über ihre zerknitterte Wange. Sie schaut aufs Meer hinaus, denkt an die Zeit zurück, in der nur ihr Surfboard die Wellen durchschnitten hat, anstelle der Plastikberge, die nun die Meeresoberfläche teilen. Sie kann das Wasser kaum noch sehen. Die Schaumkronen, die früher ihre Zehen umspielten haben sich zurückgezogen, den Plastikmassen den Vortritt gelassen. Unter ihren Fingerspitzen hört das Herz des Wals auf zu schlagen.
Was ist es wert, unser Leben? Ist das fünfte Kleid den Tod seiner Näherin wert? Ist der rote Mantel die eingenähten Kindertränen wert? Ist der kurze Snack für zwischendurch den Schmerz der Massen wert? Ist ein warmer Sommer die Dürre wert, die drauf folgt? Ist es das Wasser aus dieser bestimmten Plastikflasche wert, für den Tod eines Wals verantwortlich zu sein? Ist es der Konsum wert, dein Leben aufs Spiel zu setzen? Ist es dein Leben wert? Und wenn die Welt dann untergeht, wird alles was von dir bleibt dein Kleiderberg sein. Und ist es das wert?