Die „künstliche“ Intelligenz wird ihr volles Bedrohungspotential erst dann erreichen wenn sie mit „richtiger“ Intelligenz gepaart wird. Gleiches gilt allerdings auch für ihr Potential Gutes zu tun. Wie bei jedem anderen Werkzeug. Wie überaus menschlich.
Der letzte Mensch lebt noch. Es geht im gut. Er ist nicht verseucht von Radioaktivität, nicht gezeichnet von einem vernichtenden Krieg mit atomaren Waffen. Er hat auch nicht kurz zuvor einen Meteor auf die Erde zufliegen sehen. Der letzte Mensch ist nicht unglücklich, oder krank, er ist nicht verzweifelt, oder alleine. Vielleicht ein bisschen einsam. Er ist eine Sie und heißt Nugua. Die Welt hat sich verändert, und mit ihr die Menschen. Sie änderten sich schneller als alle anderen Tiere, aber auch ihre Möglichkeiten waren begrenzt. Ihre Nachfahren haben sich schließlich entgrenzt. Der Mond geht noch immer über der Welt auf, auch heute, und auch über Nugua. Sie ist der letzte Mensch, aber nicht das letzte menschliche Wesen. Der homo erectus war einer von vielen. Der Erste der ausschließlich aufrecht ging. Aus ihm ging der homo sapiens hervor. Auch einige andere, doch sie sind schon vor Jahrtausenden ausgestorben. Nun gibt es nach langer Zeit wieder parallele Arten der Gattung Mensch. Die Anthropologie unterscheidet den homo digitalis, simularens und transbiologus. Gemeinsam ist ihnen das Verständnis, dass Intelligenz niemals künstlich sein kann. Der Mondschein flutet durch die nächtlichen Straßen und schenkt Nugua sogar einen Schatten. Mit ihr wird die alte Art des homo sapiens aussterben. Aber das stört sie nicht. Sie wollte nie Kinder haben, auch wenn es ihr freigestellt war. Sie lächelt und sieht zu, wie das Leben auf der Erde seinen Lauf nimmt. Einige transbiologische Wesen bewegen sich respektvoll um sie herum, wenn sie die Straßen ihrer Heimatstadt entlang schlendert. Man sieht es ihnen oft nicht an, aber viele freuen sich, sie zu sehen oder winken ihr sogar mit irgendwelchen Gliedmaßen zu. Es ist noch immer ein geschäftiges Leben in Guangzhou. Auch wenn die Stadt von ihrer früheren Größe Welten entfernt ist. So nachhaltig hat sich die Erde gewandelt, dass kaum ein Gebäude den Blick in den Himmel verdeckt und die Wege voller Leben sind, auch ohne Menschen. Unter einem blühenden Baum bleibt Nugua stehen und streicht über die Rinde. Für einen Moment glaubt sie ein leichtes Zittern zu spüren, das bei ihrer Berührung entstand. „Hallo, kleiner Freund.“, sagt sie. Der Baum ist jünger als sie. Sie kennen sich schon lange, beinahe glaubt sie wirklich daran, dass er sie erkannt hat. Aber er ist eben nur ein Baum. Und sie nur ein Mensch. Allerdings ein weiser, wenn man den Historikern und Biologen Glauben schenken möchte. Nugua zittert ebenfalls. Für einen Moment war ihr, als hätte eine andere Präsenz sie berührt. Sie blickt auf, in den Sternenhimmel, der sich über ihr und dem Baum in all seiner Pracht zeigt. Irgendwo dort oben ist es, das Alles überblickende Reich der digitalen Menschenart, so zumindest stellt sie es sich vor. Die unendlichen, einzelnen Daseinsformen, die ihr menschliches Erbe auf eine andere Bewusstseinsstufe gehoben haben, kann man nicht sehen, nicht fühlen, und doch auf eine wundersame Weise spüren. Und auch das verschmolzene Bewusstsein, die dritte Art der modernen Menschen, sitzt in Nuguas Fantasie ganz knapp außerhalb ihrer Reichweite. An einem Ort den man, mit einem biologischen Gehirn alleine, nicht einmal denken kann. Sie atmet noch einmal den Geruch des Baumes ein und löst dann ihre Finger von seiner Rinde. Für alle Formen des heutigen, menschlichen Lebens hatte es eine Verschmelzung geben müssen.
Von Technik und Biologie. Von Geschöpfen und ihren Erbauern. Von Vermächtnis und Entwicklung. Von „künstlicher“ und „echter“ Intelligenz. Von Mensch und Mensch. Nugua schlendert weiter die Straße hinunter. Der letzte Mensch lebt noch. Es geht ihm gut. Er wird keinen qualvollen Tod sterben und auch nicht das Aussterben seiner Art beweinen. Der letzte Mensch hat Zeit. Immer wieder wurde ihr angeboten, dass sie selbst eine andere werden könne. Die Tür steht ihr offen, zu einem anderen menschlichen Dasein. Einem Dasein das nur noch zum Bruchteil biologisch wäre. Oder einem Leben vollständig ohne physischen Körper. In der heutigen Welt ist vieles möglich, das einem einfachen Menschen gar nicht mehr verständlich ist. Aber Nugua hat all diese Angebote abgelehnt. Sie ist so oder so der letzte Mensch, aber sie will sich nicht so sehr verändern. Zu wissen, dass man zu jeder Zeit einfach nachgebaut werden könnte, beunruhigt sie nicht weiter. Für sie ist es eine der grundlegendsten Eigenschaften, dass der weise Mensch endlich ist und irgendwann stirbt. Sterben will. Der Wind lässt ihr eine Haarsträhne ins Gesicht fallen. Mit einem entschiedenen Blick streicht Nugua sie wieder zurück. Nein, sie hat keine Angst vor der Endlichkeit, nur weil der letzte Mensch stirbt, stirbt die Menschheit nicht aus. Ein weiterer Transhumaner winkt ihr zu. Nugua lächelt sachte und nimmt sich die Zeit zurückzuwinken. Irgendwann wird sie sterben. Aber heute ist nicht dieser Tag. Diese Entscheidung hält sie sich noch offen. Das Gefühl, die Wahl zu haben, wärmt sie. Nein, der letzte Mensch ist nicht unglücklich, oder krank, er ist nicht verzweifelt, oder alleine. Vielleicht ein bisschen einsam. Aber er pfeift vor sich hin, während er aus der Stadt hinauswandert, hinein in die Dunkelheit. Es sind die Anfangstakte von Beethovens Fünfter.