Gegenüber
Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Elly Winter, 16 Jahre
Die Frau, die Anna gegenüber saß war ungefähr ein Meter siebzig groß. Schlank, sie war bestimmt einmal schön gewesen. Ihre Haare trug sie streng nach hinten gekämmt, das ist praktisch so. Ja, praktisch war alles. Praktisch und sauber. In dem Gesicht der Frau konnte man erste Falten entdecken, Spuren von einem Leben, das eigentlich nie wirklich gelebt worden war. Die Frau versuchte zu lächeln. Das Lächeln war einmal schön gewesen, jetzt war es müde dachte Anna. Müde und ausgelaugt, so wie alles an ihrer Gegenüber. Es war bestimmt mindestens ein Jahr her, dass die Frau das letzte Mal ein feines Kleid getragen hatte. Wann sie sich wohl das letzte Mal geschminkt hat? Auf jeden Fall lange nicht mehr. Früher, als sie noch unverheiratet war, schminkte die Frau sich häufiger. Mit den Jahren hatte das Leben das Interesse an ihr verloren und die Cremes waren eingetrocknet. Die Hände der Frau waren auch nicht mehr so weich wie damals. Zu oft hatten sie Fliesen wischen, Geschirr spülen und Fenster putzen müssen. Insgesamt hatte sie viel zu wenig darauf geachtet, was sie aus ihrem Leben eigentlich machen wollte. Der Mann ihrer Träume interessierte sich mehr für seine eigenen Träume als für ihre, aber was waren Träume schon. Hirngespinste aus der Jugend als man noch dachte, dass alles möglich wäre. Je länger Anna der Frau gegenüber saß, desto unsympathischer wurde sie ihr. Es war unangenehm, in ein Gesicht zu schauen, das schon über die Enttäuschungen hinweg war. Die Enttäuschung, nie das gemacht haben zu können, was man gerne gemacht hätte, nie den Mut gehabt zu haben, sich durchzusetzen und einen eigenen Weg zu gehen. Anna schaute noch eine Weile in die Augen der Frau, die nicht mehr so blitzten wie früher. Dann stand sie auf und ging. Nächste Woche würde sie den Spiegel auf den Dachboden bringen, er hatte ihr eh nie gefallen.