Das Mädchen mit den kurzen Haaren

Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Anna-Lena, 17 Jahre

Ein Sommermorgen. Die warmen Strahlen der aufgehenden Sonne ließen Anna langsam aus ihren Träumen erwachen. Was war das für ein wundervoller Zustand, die Traumwelt, ohne Sorgen, ohne Ängste, es gab nicht einmal das kleinste Gefühl von Einsamkeit, alles war so perfekt, so perfekt wie es das echte existierende Universum nie bieten könnte. Mit ihren zarten Füßen glitt sie in ihre rosafarbenen Hausschuhe, die traditionell vor ihrer Bettkante ein Zuhause gefunden hatten. So angenehm dieser Morgen auch gestartet war, so begann nun doch der alltägliche Stress. Die viel zu kurze Zeit, um sich für den Weg in die Bildungseinrichtung fertig zu machen, schon mit einem kleinen Nervenzusammenbruch den Bus voller krank aussehender Menschen zu erreichen und dort verzweifelt irgendwie zu überleben. Es würde wohl nie einen Tag geben, der wie in all den Zeitschriften und Büchern eine wundervolle Ruhe, gepaart mit einhundertprozentiger Gelassenheit ausstrahlt. Nicht in dieser Gesellschaft.

Die steinige endloslange Treppe auf dem Weg zum Klassenraum fühlte sich heute noch unendlicher an als an all den anderen Tagen zuvor. Immer wieder stiegen Anna all die negativen Gedanken in den Kopf, die Angst vor den Worten ihrer Mitschüler, die Angst vor ihrer eigenen Psyche, vielleicht sogar vor sich selbst. Sie musste stark bleiben, jeden Tag hoffen, dass er eine langersehnte Lösung für jedes ihrer permanenten Probleme bringen würde. „Einfach auf den Boden schauen, einfach nicht die Aufmerksamkeit auf mich ziehen.“ Jede Sekunde erklärte ihr Verstand ihr, dass dies wohl die einzig richtigen Gedanken wären, solange sie nicht aus der Menge herausstach, würde niemand bemerken, dass sie eine riesige Zielscheibe war, die förmlich nach Pfeilen rief – doch sie stach heraus. Nichts sollte Anna helfen, es kam wie es kommen musste, wie es jeden verdammten Tag zuvor auch gekommen war.
Noch bevor sie ihren grünen Plastikstuhl in der letzten Reihe an einem der verlassensten Tische erreicht hatte, ging der Spaß für jegliche Mitschüler, die auf einer Beliebtheitsskala wohl eine Million Plätze über ihr gelandet wären, wieder los. Selbst ein Blinder hätte diese Art von Menschen schon identifiziert, bevor sie auch nur ein einziges Wort über ihre Lippen gebracht hätten. Anna erinnerte sich in diesen Momenten immer an die Greifvögel, über die sie in der Grundschule einen Vortrag halten musste, sie wussten genau, welche Tiere eine leichte Beute für sie waren, welche von all den Lebewesen keine Chance hatten, wenn sie ihren Sturzflug starteten, um sie anschließend am Genick zu packen und in die endlosen Weiten der Luft zu tragen. Genau eines dieser hilflosen Tiere war sie, sie würde wohl immer ein Opfer bleiben, so wie auch an diesem Morgen.

„Willst du dir nicht gleich auch noch diese Stoppeln vom Kopf rasieren Igelmädchen?“ Jason, er war der stärkste von allen, nicht physisch, aber mental würde sich wohl nie einer mit ihm anlegen können. Keinen Tag ihres Lebens konnte Anna verbringen, ohne ständig eine seiner Aussagen von ihrer inneren Stimme zu hören. Es gab oft Momente, in denen sie dachte, sie wäre eines der Mädchen aus den unzähligen Horrorgeschichten, die von irgendeinem Fluch besessen waren. Diese weiblichen Gestalten wurden jedoch in keiner Weise von einem oder gar mehreren ihrer Mitmenschen ausgestoßen. Vielleicht wurden sie von einem Dämon heimgesucht, vielleicht auch von einem anderen Wesen, doch leider gab es niemanden, der Annas Geschichte verstehen konnte. Keiner von diesen Charakteren musste mit der Art schlimmen Schmerz klarkommen, dachte sie zumindest.

Irgendwie fühlte sich dieser Tag anders an, es war nicht das gleiche Gefühl, dass sie sonst von sich kannte, keine Mischung aus Angst, Stärke, Schmerz und einem Funken Hoffnung. Nur Schmerz. Es sollte eine Veränderung ihrer Wahrnehmung sein, die alles änderte. Ab diesem Moment wollte Anna nicht mehr die ausgeschlossene hilflose Beute sein, nicht in diesem Leben. Zum ersten Mal sah sie einen Ausweg, einen Ausweg, den kein Mensch sehen sollte. Von dieser Sekunde an übernahmen ihre Beine die Entscheidung über ihren Körper, es fühlte sich an, als hätte jemand einen kleinen Knopf gedrückt, um endlich ihren sinnlosen Verstand auszuschalten. Sie rannte. Durch die schwere Tür des Klassenraums, das Treppenhaus, unendlich lang, schneller als sie es sich je hätte ausmalen können. Erst als sie an der Klippe, die zum Strand führen würde, angekommen war, konnte sie ihre adrenalingeladenen Füße zum Stehen bringen. Eine Mischung aus Luftmangel, Verzweiflung und einem unbeschreiblichen Glück machte sich zwischen ihren Adern breit. Zitternd setzte sie einen Schuh vor den anderen, um sich langsam dem Rand zu nähern. Während sie die Augen schloss, fing sie an über die physikalischen Tatsachen ihres Zustands nachzudenken, wie lange würde sie an diesem Punkt balancieren können, bis ihr Gleichgewichtssinn nachgab und sie endlich in die unendliche Befreiung zu stürzen?

Anna war sich sicher, ihr Moment war jetzt gekommen, irgendjemand da oben hatte gewollt, dass sie genau jetzt ein Ende fand – ein befreiendes Ende. Ein letzter Schritt, doch da änderte sich alles schlagartig. Auf ihrer Schulter spürte Anna eine kalte, zarte Hand, die sie mit einem festen Griff packte und sie nie wieder loszulassen schien. Spitze Steinchen durchdrangen ihre Hose, als sie unsanft auf den Boden gerissen wurde. Während ihre Gedanken wild durch ihren Kopf kreisten, versuchte sie sich langsam umzudrehen. Ihre bereits Tränen überströmten Augen blickten in das erschrockene Gesicht eines jungen Mädchens mit dunkler Hautfarbe. Sie war vielleicht zwei oder drei Jahre älter als Anna, doch bevor diese auch nur ein Wort herausbrachte, fiel das fremde Mädchen ihr um den Hals. Das Schicksal war an diesem Tag zu einem Menschen geworden, der Annas Leben aus einem anderen Blickwinkel betrachtet hatte. Ohne von ihrem Krebs zu wissen.

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