Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Miriam Kubik, 15 Jahre
Die Kastentüre des Zimmers, des kleinen Raumes der billigen Wohnung mit den zwei Zimmern und den unendlich vielen Polaroid Bildern an der Wand, die Erinnerungen an früher, an die Menschen, die es mal gab und die Orte, die sie einst sah, Dinge, die sie nicht mehr hat und nach denen sie auch nie mehr greifen können wird. Sophia blickt in den großen Spiegel, der auf dem Boden steht und betrachtet die Person, die ihr gegenüber steht -sie- ein Mädchen, das, wenn es dies öfter tun würde, das schönste Lächeln der Welt besitzt, aber jeden Morgen; immer wieder aufs Neue; jede darauffolgende Woche, tausend Schichten Make-Up im Gesicht trägt und die unechten Wimpern, die an manchen Tagen Schuld daran sind, dass sie zu spät zur Schule kommt, weil es wichtig ist, das Fake-Wimpern-raufkleben-obwohl-sie-in-Wirklichkeit-schon-perfekt-sind, das Augenbrauen nachziehen, obwohl die Form exakt zu ihr passt und das Augenringe überdecken, obwohl sie immer früh schlafen geht.
Aber Sophia kann eben nicht anders, sie muss es tun, und auch die Sache mit dem Essen ist gar nicht so einfach für sie - das mit leerem Magen zu Bett gehen und ohne Frühstück zur Schule sprinten, wo sie von ihren Freundinnen, die sie um die perfekt gezogenen Augenbrauen und die pickellose Haut beneidet, umarmt wird und sich leise denkt, dass sie auch so sein möchte. Ein Mädchen mit blonden langem Haar, den schönen vollen Lippen und diesen blau schimmernden Augen, wie es diese großen schlanken Frauen in den Magazinen haben, die auf den Tischen und der Kommode in ihrem Zimmer, als Poster an der Wand im Bad oder als eingerahmtes Bild in der Küche über dem Esstisch hängen.
Ja, es ist gar nicht so leicht, um ehrlich zu sein, extrem schwer, dem Ideal, das Sophia vorgelebt wird, entsprechen zu können und dass sie einfach auch perfekt sein will und dafür sogar das mit dem Essen lässt, denn vielleicht gehört sie ja auch irgendwann einmal dazu - zu den Frauen aus den Magazinen, die von allen Männern wie Göttinnen bewundert werden und es ist ihr auch egal, wie sehr sie daran kaputtgehen wird, denn die anderen schaffen es schließlich auch.
Während Sophia in ihrem Zimmer vor dem Spiegel steht, sich in alle Richtungen dreht und einfach nicht aufhören kann, sich anzusehen, mit den Fingerspitzen das restliche Fett an den Oberschenkeln zur Seite zieht und sich vorstellt, wie hübsch sie sein wird, wenn dieses Übel auch von ihrem Körper geht und sich in die Liebe zu sich selbst verwandelt, denn dann würde Sophia all das haben, was sie schon immer haben wollte - die optimale Figur und das Selbstbewusstsein, das ihr täglich fehlt, und es für ein paar Minuten mal vergisst, indem sie sich mit dem Rasierer über ihre Schulter fährt.
Doch der Bauch gefällt ihr heute ziemlich gut, denn der Speck unter den zwölf Rippen, die Sophia zählt, ist endlich auch für immer weg, so wie der Umfang ihrer Brüste, das Erste, an was man dachte, wenn man von Sophia sprach. Ja, ich meine Sophia-mit-den-Hängetitten, die nie aufhörten zu wippen, wenn sie durch die Straßen ging und wieder damit anfing, zu denken, eine Diät zu machen. Ihre Brüste sind auch jetzt noch nicht perfekt, aber wenigstens sind sie schön geformt und vor allem nicht zu groß, denn wären sie gößer, denkt Sophia, müsste sie sich irgendwann noch unters Messer legen, und das wäre viel zu teuer, denn das Geld braucht sie schließlich für die Tusche und den Lippenstift und das Make-Up und den Concealer und den Augenbrauenstift und den Highlighter für die Wangenknochen, die seit den letzten Wochen immer mehr zum Vorschein kommen.
Ihre Mutter, ahnt Sophia, wird beim nächsten Treffen wieder stundenlang ihre Vorträge darüber halten, wie schön ihre Tochter doch sei und dass sie das ganze Zeug, das sie sich immer wieder ins Gesicht klatscht, gar nicht braucht, weil sie hübsch ist, wie sie geschaffen wurde und dass Sophias Vater ihre Mutter auch ohne Make-Up und den ganzen Kram über alles liebe, ja das wisse sie, aber Sophia weiß auch, dass ihre Eltern keine Ahnung haben, was gerade in ist und was out, und zu dem zweiten gehört auch das Verhalten ihrer Mutter, das gerade überhaupt nicht geht, denn sie wurden geboren in einer Welt, in der noch menschliche Werte zählten und man keinen Like für ein Foto bekam oder Einem tausend Hater immer sagen, was du alles falsch machst in deinem Leben, ja, davon haben Vater und Mutter wirklich keine Ahnung, vielleicht wollen sie das auch gar nicht.
Aber eines wissen beide ganz genau - dass Sophia irgendwann versteht, dass es ihre Eltern nur gut mit ihr meinten und sie ihrer Tochter wie bei den ersten Schritten die Hände ausstrecken müssen, um sie nach dem Fall auf den harten Boden des Lebens wieder nach oben ziehen zu können, auch wenn es vielleicht zu spät ist, aber jetzt gerade denkt Sophia nicht daran - sie starrt einfach nur an die Kastentüre des Zimmers, des kleinen Raumes, der billigen Wohnung mit den zwei Zimmern und den unendlich vielen Polaroid Bildern an der Wand, bevor sie ins Bad geht, um sich noch rechtzeitig die Wimpern aufzukleben.