Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Rebeca ter Beek, 25 Jahre
Wir gehen durch die Straßen. Aber was nehmen wir wahr?
Die leuchtende Reklame der Geschäfte? Die roten Schilder, die uns mit ihrer Aufschrift „-50%“ sagen wollen „schlag zu“?
Den aufdringlichen und doch verlockenden Mix aus Essensgerüchen und Parfümdüften?
Vielleicht hören wir aber auch noch unbewusst den Straßenmusiker an der Ecke mit seiner Violine, wie er gerade „Ave Maria“ den Passanten vorspielt. Und ganz vielleicht geben wir ihm sogar etwas Geld, weil uns das Stück an etwas erinnert, was uns wichtig ist.
Was wir aber nicht sehen, sind die Menschen.
Was wir sehen, ist eine drängelnde Masse, die uns selbst nur den Weg versperrt; die uns an der Kasse Zeit kostet – unsere Zeit.
Wir sehen nicht die alte Dame, die froh ist, dass sie heute die Kraft hat, rauszugehen, um selber einzukaufen; die, die etwas länger braucht mit ihren fast 90 Jahren, weil sie froh ist, dass sie ein paar Worte mit der Kassiererin wechseln kann, weil zuhause niemand ist, mit dem sie reden könnte. Der Mann tot, die Kinder lange fort und die Rente zu knapp, um ins Altenheim ziehen zu können.
Was wir sehen, wenn wir ein Geschenk kaufen und an der Kasse stehen, ist ein junges, blondes Ding, was mit kassieren und gleichzeitig Geschenke verpacken überfordert zu sein scheint.
Was wir nicht sehen, ist die junge Frau, die froh ist, dass sie ihren Gesamtschulabschluss überhaupt geschafft hat. Die, die glücklich ist, dass sie eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau beginnen kann und heute allein an der Kasse steht, weil die Kollegen krank sind. Die, die immer noch lächelt, obwohl sie lieber weinen würde, wenn sie aus der Kassenschlange hört: „Kein Wunder, dass es nicht weiter geht, schau mal, was da für eine an der Kasse steht.“ Denn an ihr hängt vielleicht die Hoffnung ihrer Familie.
Was wir sehen, wenn wir durch die Straßen laufen, ist der dreckige und faule Obdachlose, der mit seinem Hund auf einer Decke bettelt.
Was wir nicht sehen, ist der renommierte Professor, der den Tod seiner geliebten Frau nicht verkraftet hat. Der, der seinen Kummer in Alkohol ertränkt und gelernt hat, dass es schwach ist, um Hilfe zu bitten. Der, dem nur der Hund geblieben ist, weil sich Freunde und Familie abgewendet haben.
Was wir sehen, wenn wir durch die Straßen laufen, ist das seltsame junge Öko-Pärchen mit dem Kinderwagen. Beide Dreadlocks, komische Wollklamotten und ohne Handy in der Hand.
Was wir nicht sehen, ist die studierte Sozialarbeiterin und den Altenpfleger, die es nach 3 Jahren endlich geschafft hat, mit ihrem Verlobten ein Kind zu bekommen. Die, die sich nach einer besseren Welt sehnen und ihren Teil für Gesellschaft und Welt beitragen möchten. Die, denen Kommunikation noch wichtiger ist als virtueller Ruhm.
Was wir sehen, wenn wir uns entschließen, etwas zu Essen im Fast-Food-Laden zu kaufen, ist die fette Frau im schmuddeligen XXL T-Shirt und der Jogginghose, die mal weniger fressen sollte – dann wäre sie ja auch nicht so dick.
Was wir nicht sehen, ist eine junge Frau, die noch vor 2 Jahren keine 60 Kilo auf die Waage brachte. Die, die angefangen hat, massenhaft zu essen, um das Trauma zu kompensieren. Das Trauma, immer auf den Körper reduziert zu werden und schlussendlich vergewaltigt worden zu sein.
Wir haben gelernt zu verurteilen, statt kennenzulernen. Wir leben oberflächlich und egozentrisch – und gleichzeitig ist uns nichts wichtiger als die Meinung der anderen. Oft sogar die von Fremden durch Facebook, Twitter und co. Würden wir dieses Paradoxon erkennen und verändern, wäre die Welt ein empathischer, schönerer und weniger hasserfüllter Ort.