Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Celeste-Sarah Ilkanaev, 19 Jahre
Es war ein warmer Tag in Wien. Ich bin mit ein paar Freunden und meiner Schwester zur Arena gefahren, um Live Musik zu hören und Bier zu trinken. Wir lachten, wir machten Witze, wir hatten Spaß. Die Band spielte ein gutes Lied, das uns alle zum Tanzen und Singen brachte. Mein Handy klingelte, ich hörte es nicht. Erst später sah ich die vielen Nachrichten meines Freundes.
Ich ging etwas weiter weg von der lauten Musik, rief ihn an. Ich konnte ihn nicht verstehen. Ich konnte nur Wut, Trauer und Schluchzen durch vereinzelte Worte hören.
Erst nach zwei Minuten verstand ich den Satz: „Boris ist tot.“ Sein bester Freund war an einer Überdosis gestorben. Boris, der ging mit uns in die Schule; Boris, der so schlau war, der den Lehrern zeigen konnte, dass sie sich nicht alles erlauben können; Boris, der sich vor der Schule geprügelt hatte, weil so ein Snob sich über unseren Jahrgang lustig gemacht hatte; Boris, der im Graben schwimmen war; Boris, der immer lachte und gute Laune verbreitete; Boris, der sich mit 15 in die hübsche Blondine verliebt hatte und bis zu seinem Lebensende über sie sprach, als wäre sie eine Göttin.
Zwei Tage später wurden auf Instagram Fotos von ihm gepostet - von Leuten, die er kaum kannte. Alles nur, damit sie Aufmerksamkeit bekommen, damit Menschen sie bemitleiden, ihren vermeintlichen Verlust bedauern. Sie stellten über Instagram intime Fragen an seine gerade einmal 16-jährige Schwester, unter dem Deckmantel der Anteilnahme, obwohl es reine Sensationsgeilheit war; seine Schwester, die ihn tot in seinem Bett aufgefunden hatte.
Zwei Wochen später war seine Beerdigung. Niemand war da, außer seinem besten Freund und seiner Familie mütterlicherseits. Nicht einmal sein Vater; denn jetzt einmal ehrlich, es ist einfacher unter Boris Bilder einen Kommentar zu posten, als der Realität ins Auge zu blicken, da zu sein und tatsächlich zu fühlen.
Zwei Monate später flogen wir nach Paris, um an seinen Grabstein zu gehen. Die hübsche Blondine, sein bester Freund und ich. Keine Blumen. Also klaute die hübsche Blondine Blumen und steckte eine Chic hinein auf Boris-Style. Der beste Freund steckte seine Drogenliste in die Erde neben sein Grab.
Zwei Stunden später trafen wir seine Schwester. Und so erzählte sie uns das geheimnisvolle Leben von Boris. Im November 2018 ist er - nachdem man ihn ein Jahr lang nicht mehr gesehen hatte - zurück nach Wien. Er meinte er bleibt nur für drei Tage. Er schlief bei der hübschen Blondine, aber blieb länger bei ihr: eine Woche, dann zwei, dann drei. Dann schlief er bei seinem besten Freund; aus seinen geplanten drei Tagen wurden zwei Monate.
Vor zwei Tagen erfuhren wir, dass er vor seinem Vater aus Serbien geflohen war, dass er in Wien um Geld gekämpft hatte, dass er es schwer hatte. Schließlich ist er zu seiner Mutter nach Paris. Dort ging es ihm besser: Er nahm zu, seine Augenringe verblichen, er sah gesünder aus. Er hat in Paris einen Entzug gemacht. Sein bester Freund, seine Geliebte wussten beide nichts davon. Sie wussten nichts über seinen abscheulichen Vater und seine abscheulichen Taten. In der Nacht seines Todes kam er wie immer mit einem Scherz auf den Lippen nach hause, aber es ging ihm seit Tagen emotional nicht gut. Boris hatte nie etwas erzählt, nie Trauer gezeigt, er hatte immer ein Lächeln im Gesicht, aber seine Schwester merkte, dass etwas los ist. Dann ging er wieder aus dem Haus, telefonierte mit seinem Vater, nahm daraufhin eine Überdosis und starb.
Es ist noch viel mehr passiert, aber da müsste ich einen ganzen Roman schreiben, was in der Welt des „immer online, immer schneller...“ leider nicht möglich ist. Was ich mit dieser Geschichte teilen möchte, sind die vielen Fragen, die sich nach alldem in meinem Kopf eingepflanzt haben.
Hätten wir für ihn etwas machen können? Ja hätten wir können, aber anstatt sich zu fragen, warum er zwei Monate in Wien war, wir nicht wussten wo er teilweise geschlafen hatte, woher er Geld hatte, haben wir Scherze gemacht und dachten uns nur: „Das ist halt Boris.“
Warum hat ihn keiner gefragt, was los ist? Weil wir alle mehr mit unseren Smartphones, mit der Selbstoptimierung und mit dem Leistungsdruck beschäftigt sind, so dass wir nicht einmal aufblicken können, nur ein einziges mal, um tatsächlich zu sehen, was um uns herum passiert.
Nein, denn stattdessen können wir die Aufmerksamkeit, die wir brauchen, durch Likes bekommen, um Aufmerksamkeit schreien, indem man sowas wie den Tod eines Menschen teilt, anstatt sich an die reale Welt zu wenden, um Hilfe zu bitten.
Diese Geschichte soll nicht den besten Freund oder die hübsche Blondine kritisieren. Nein, sie soll der Gesellschaft die Augen öffnen – zumindest einen Spalt - die durch den ganzen Druck der Moderne die Menschlichkeit, die Hilfsbereitschaft und die Anteilnahme vergessen hat.
Diese Geschichte soll keine inspirierende sein, sondern ein Aufruf an alle, einmal aufzublicken und sich mit seiner tatsächlichen Umgebung zu beschäftigen.
Das Moment des Aufwachens soll bei euch nicht auch durch einen Tod bewirkt werden, sondern durch etwas harmloseres wie die Geschichte eines wunderbaren Menschen: Boris.
Boris schläft zwar, aber wird in unserer Erinnerung immer wach bleiben.