Lügen

Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Jasmin, 16 Jahre

Nein, es stimmt schon, du hast schon recht.
Aus mir kann nichts werden.
Dafür mache ich einfach den falschen Sport.
Klar, du hast schlicht mehr Ahnung davon, selbst hast du zwar noch nicht einen einzigen Tag in der Halle gestanden, aber immerhin hast du über hundert Spiele – ach, was sag ich, über tausend – im Fernsehen verfolgt und daher ist dein Wissen über meinen Sport natürlich riesengroß, größer als das erfahrener Trainer, um ein Vielfaches größer als das der Schiedsrichter und natürlich meinem weit, weit überlegen.
Du bist älter als ich, ich kann nachvollziehen, wenn du sagst, allein deine Lebenserfahrung – die meiner offensichtlich überlegen ist – gibt dir das Recht, recht zu haben.
Stillschweigend lausche ich deinen Vorträgen über Spielzüge und Angriffstaktiken und nicke verständnisvoll, wenn du lachst, mir übers Haar streichst und sagst, naja, ich will dich nicht damit langweilen, davon verstehst du ja nichts, Mädchen spielen sicher ganz anders.

Ist ja nur logisch, denn als Mädchen bin ich schließlich schon biologisch nicht in der Lage, diesen Sport so auszuführen wie du. Da kann niemand was dafür, das hat Mutter Natur so bestimmt und da sieht man mal, dass Mädchen auch einfach nicht dafür vorgesehen sind, einen Sport wie Handball auszuüben.
Meine Knochen sind nicht so stark wie deine, ich bin nicht so breit gebaut, und wenn du in der Pubertät kiloweise zunimmst, dann bloß Muskelmasse. Ich nehme auch zu, aber natürlich nur an Fett. Und überhaupt überragst du mich um zwanzig Zentimeter, wenn wir gegeneinander spielen würden, würdest du mich zerschmettern. Nicht, dass du es je probiert hättest. Aber natürlich nur, weil du mir nicht weh tun willst.

Überhaupt, wie bin ich nur auf die hirnrissige Idee gekommen, Handball zu spielen, ausgerechnet so ein brutaler Sport und Fouls gibt es ja auch fast keine, nicht, dass mir dabei ein Fingernagel abbricht, das wäre doch zu schade. Immerhin geben doch alle Frauen haufenweise Geld dafür aus, sich die Nägel jeden Monat schön machen zu lassen.
Kann nur daran liegen, dass das weibliche Gehirn dem männlichen unterlegen ist, immerhin ist es ja auch kleiner und das ist ja jetzt nicht nur deine Meinung, im Gegenteil, es muss ja so sein, denn wenn man sich Führungskräfte weltweit mal anschaut, da ist die Zahl der Frauen schon deutlich geringer. Nicht, dass ich dir jetzt unterstelle, sexistisch zu sein, nein, niemand ist weniger Sexist als du. Du liebst und bewunderst die Frauen, ja das tust du. Aber Statistiken sprechen nun mal für sich. Wer wäre ich, die zu widerlegen.
Und das mächtigste Land der Welt zeichnet sich ja auch dadurch aus, dass es noch nie eine Frau an seiner Spitze hatte. Nein, so etwas ist Männersache, die sind einfach bessere Leitfiguren, und überhaupt handeln sie bekanntlich vernünftiger und weniger hormongesteuert.

Aber jetzt nochmal zurück zum Handball, sagst du, bist du dir sicher, dass du das weiterverfolgen willst?
Ja, eigentlich sollte ich es besser aufgeben, ich weiß, mein Traum von einer Karriere ist kindisch und naiv, immerhin ist es schon als Mann schwer genug, sein Geld als Profisportler zu verdienen, aber Frauenhandball, das will sich doch niemand angucken, wo sollen denn dann die Gelder herkommen? Nicht, dass ich am Ende auf der Straße lande.
Ich weiß, du sorgst dich nur um mich. Du meinst das gar nicht böse. Im Grunde unterstützt du eigentlich sogar, dass ich nicht bin wie alle Anderen, nur beruflich sollte ich vielleicht andere Wege gehen.
Und weil du so nett zu mir bist, frage ich nicht, was du mit allen Anderen meinst. Das Klischee „Frau“? Ach nein, wie komme ich denn auf den Gedanken, kann ja gar nicht sein, das gibt es doch längst nicht mehr.
Nur dank deiner Intelligenz und Erfahrung – womit ich einfach nicht mithalten kann – siehst du meine Zukunft viel klarer als ich und möchtest mich bloß davon abhalten, einen schweren Fehler zu begehen.

Natürlich sagst du das alles nicht so direkt. Ich habe das jetzt auch ein bisschen falsch dargestellt. Niemals würdest du mir so etwas ins Gesicht sagen. Wie gesagt, du meinst es ja nur gut mit mir. Aber ich weiß, dass du so denkst, denn du baust deine Ansichten unterschwellig in deine Sätze ein, deutest an, lässt Dinge unausgesprochen in der Luft hängen.
Vielleicht nimmst du an, ich merke das gar nicht.
Aber ich kann lesen, was zwischen den Zeilen steht, und ich kann hören, was du hinter meinem Rücken flüsterst.
Natürlich sprichst du nicht direkt aus, was du denkst. Was alle denken.
Immerhin leben wir im 21. Jahrhundert in einem topmodernen Land, die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist längst Geschichte, eine Selbstverständlichkeit. Eigentlich.
Wer es wagt, dagegen etwas zu sagen, wird schief angesehen, denn wir Frauen können wirklich dankbar sein, wie gut es uns geht. Auf dem Papier dürfen wir alles, was ihr Männer auch dürft, also wo liegt das Problem? Habt euch mal nicht so, ihr wollt ja bloß weiter jammern, sagst du.
Ich darf Handball spielen, niemand sagt etwas dagegen, im Ernst, ist doch ein schöner Sport. So ein emanzipiertes Mädchen. Ich bin ja zu bewundern.
Es ist gestattet, es wird geduldet, es findet sogar Anklang in der Gesellschaft.
Aber wird es auch anerkannt?
Ja, Handball, toller Sport, sagst du.
Aber Erfolg haben? Richtig gut spielen? Die Sorte von Spiel, wo die Halle brechend voll ist, eine knisternde Spannung in der Luft liegt und man sein eigenes Wort kaum hört, weil die Zuschauer so viel Lärm machen?
Das können Mädchen nicht, denkst du.
Und schreist es mir auch ins Gesicht. Nicht so. Nicht direkt.
Auf eine andere Art und Weise.
Aber natürlich bist du im Recht. Wie könnte es auch anders sein? Immerhin bist du ein Mann und wir leben im 21. Jahrhundert.

Zum Wettbewerb