Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Anna Bolten, 17 Jahre
ERFOLG. Sie malte das Wort in fetten Druckbuchstaben an die eisige Fensterscheibe. Die Landschaft draußen flog verschwommen an ihr vorbei. Ihr Vater fuhr mal wieder viel zu schnell. Aber sie sagte nichts. Man sagte nichts. Sie hatte sich dieser Welt, wie sie diese nun mal heute vorfand, anzupassen. Zu fügen. Ein Blick ihres Vaters reichte und sie wusste, dass sie nicht an der Fensterscheibe herum zu schmieren hatte. Sie beobachtete die Landschaft draußen und mutmaßte, ob ihr Leben auch so an ihr vorbeiziehen würde, wie es die Welt dort draußen tat.
Sie wusste früh, dass sie sich das nicht gefallen lassen würde. So war sie nicht geboren. Ihre Gedanken mussten aufs Papier. Jedes Wort, jede Silbe war von Bedeutung. Sie ahnte früh, wie viel Macht hinter der Sprache steckte. Also eignete sie sich Macht an. Andere Formen der Macht waren ihr nicht erlaubt. Also ihnen. Sie war eine Sie. Nie hatte sie das gestört. Bis sie in die Schule kam und lernen musste, dass es einen Unterschied zwischen denen und ihr gab. Sie war eine Sie.
Mit der Zeit verlor sie ihre Weitsicht, so wie alle es taten. Sie vertraute in das System, schrieb gute Noten und verlor sich in Büchern. Geschichten über Helden und starke Persönlichkeiten. Sie ließ sich inspirieren. Solange sie las, hatte sie das Gefühl, dass ein Jeder und eine Jede von Bedeutung war. Unabhängig davon, wie man geboren wird und auf der Welt ankommt, sollte man die Möglichkeit haben, diese Welt anders, neu und individuell zu verlassen. Hörte sie auf zu lesen, vergaß sie bald wieder diese Grundsätze und musste sich mit dem zufrieden geben, was man ihr in dieser Welt, in dieser Gesellschaft, bot. Lange war sie fleißig und strebte beste Leistungen an. Aber nie fühlte sie sich anerkannt. Nie vollkommen.
Sie schrieb. Seit sie klein war. Und das unglaublich gerne. Sie war mittlerweile dazu übergegangen, ihre Artikel unter einem Pseudonym veröffentlichen zu lassen - ihre Überlebensstrategie. Nicht mal ihr Vertreiber wusste, wer sie war. Wer das war. Wer er ist. Also sie. Sie hatte sich einen männlichen Namen ausgedacht und brachte nun jeden Abend eine Kolumne zu ihm nach Hause. Der Vertreiber war festangestellter Redakteur der Tageszeitung der Region und konnte sich nur durch gute Kontakte und seine journalistische Festanstellung eine solche Ausnahme erlauben. Er hatte nie seinen eigenen Namen unter ihre Artikel gesetzt. Hatte aber auch nie nach ihrem echten gefragt. Und trotzdem, obwohl sie ihm nie persönlich begegnet war, wusste sie, dass man ihm vertrauen konnte. Dennoch lief sie mit zugezogener Jacke, das Gesicht von ihrer Kapuze verdeckt, durch die Straßen. Zitternd umklammerten ihre Hände den Umschlag. Jeden Abend warf sie einen in seinen Briefkasten. Und jeden Morgen konnte sie ihre Kolumne in der Tageszeitung lesen. Nicht nur sie. Die ganze Stadt, die Region und Umgebung. Sie tat es heimlich. Es war unheimlich.
Anerkennung erhoffte sie sich nicht mehr. Auch keine vollständige Akzeptanz. Nur dieses eine. Respekt. Respekt vor der Sprache. Vor Wörtern, vor Silben. Vor deren Bedeutung. Und vor allem vor der Autorin. Was hatte eine wie sie schon zu sagen? Darum ging es in ihrem Leben nie. Seit sie klein war nicht. Sie hatte zu gehorchen, wie es eine Sie eben zu tun hat. Niemand konnte behaupten, die letzten Jahrzehnte hätten wirklich etwas verändert. Wie viel wert ist ihre Stimme, wenn er anderer Meinung ist? Wie viel wert sind ihre Ansichten, wenn er sowieso alles wieder umschmeißt? Wie viel wert ist ihre Kolumne, wenn er sie nicht liest und veröffentlicht? Wie will sie frei sein, wenn er ihr im Weg steht?
Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als gehört zu werden. Sie konnte sich sprachlich ausdrücken, das war nie das Problem. Der Zuhörer war es. Sie musste ihre Identität verstecken, damit ihre Texte anerkannt wurden. Ihre Kolumnen waren von Erfolg gekrönt. Sie erreichte Leser. Man erreichte Leser. Nicht sie. Denn sie blieb versteckt. Traute sich nicht aus ihrer Tarnung heraus. Da war dieses Konstrukt. Eine Welt aus Menschen, die mehr zu sagen hatten. Die ihre Stimme nicht hören wollten. Denn sie war eine Sie.
Seit ihrer Geburt war ihr Lebensweg vorgezeichnet. Auch wenn alle beteuerten, es wäre anders. Die Gesellschaft hatte sie früh im Griff. So wie alle ihrer Art. Eingepfercht in eine Welt voller Vorurteile. Voller falscher Versprechen. Voller oberflächlicher Forderungen. Und obwohl sie in dieser kontroversen Welt nicht alleine lebte, schien sie keiner so wahrzunehmen, wie sie es sich wünschte. Konnte man ihre Texte nicht lesen und dankend nicken. Konnte man sich nicht beim Lesen an die Stirn fassen und zustimmen? Konnte man sich nicht fragen, wer diese Texte schrieb?
Sie hatte sich nie etwas mehr gewünscht, als endlich Bestätigung zu erhalten. Sie wollte die Welt verändern. Anderen die Augen öffnen. Sie wollte Journalistin werden, denn sie hatte nicht das Gefühl, dass Politikerinnen die Welt verändern könnten. Und dennoch saß sie in diesem Auto, das viel zu schnell fuhr. Und sie konnte es nicht anhalten. Denn sie war eine von ihnen. Eine Sie. Sie würde es nie erreichen. ERFOLG.