Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Magda, 17 Jahre
Stellt euch vor, ihr wärt in einem Raum. Allein. Die Wände sind weiß und werden nur von dünnen Rissen überzogen, die wie Blitze aus Wolken geboren wurden und nun in eurem kleinen Raum erstarrt sind.
Er ist so klein, dass ihr gerade einen Schritt in jede Richtung wagen könnt. Wollt ihr weiter, so stoßt ihr schon an die erstarrten Blitze, die sich von oben aus ihren Weg nach unten gesucht haben. Die Wände sind aus Steinen gemauert, die eine Kälte ausstrahlen, sodass ihr eure Zehen und Fingerspitzen nicht mehr fühlen könnt.
Eure Augen schmerzen von dieser Kälte und der unbunten Farbe, dass ihr sie am liebsten schließen würdet. Aber das geht nicht, denn ihr müsst die erstarrten Blitze bewachen, damit sie nicht zum Leben erwachen und sich weiter ausbreiten, sodass ihr kein Weiß mehr sehen würdet, sondern nur noch ihr gräuliches Braun mit schwarzen Flecken.
Der Boden, auf dem ihr steht, ist auch weiß, euer Schatten befindet sich auf ihm. Er ruht dort und kann sich nicht erheben. Die Decke über euch habt ihr noch nie gesehen, denn sie existiert nicht. Dennoch könnt ihr eure Arme nicht nach oben ausstrecken, denn eure Hände sind schwer wie Blei, ihr könnt nicht nach oben springen, denn eure Sprunggelenke sind eingefroren von der Kälte der Steine. Ihr dreht euch um und seht eine Tür. Sie ist aus Holz und unter ihrer Titanium-weißen Farbschicht erkennt ihr noch die Maserung der Äste des Baumes aus dem eure Tür besteht. Ihr seht diese Ringe so genau und deutlich unter der Schicht von Farbe, dass ihr die Ringe zählen könnt. An manchen Stellen ging die Farbe ab und nun ist dort ein nacktes Stück Holz in der linken oberen Ecke eurer Tür. Die Abwesenheit von Farbe zeigt in dieser Ecke die natürliche Gestalt. Die Tür ist aus Eichenholz. Dementprechend dunkelbraun, ja fast schwarz wie ein Loch ist dieses kleine nackte Stück Holz. Zu euren Füßen liegt die abgebröckelte Farbe. Ihr möchtet sie aufheben und an ihren Platz zurückbringen, dort, wo sie hingehört. Aber euer Rücken ist so steif vom langen Aufrechtstehen in diesem kleinen Raum, dass er verlernt hat, die Wirbelsäule zu krümmen. So müsst ihr stehen bleiben und die Farbe muss am Boden bleiben und das nackte Stück Holz wird nie die Möglichkeit haben seine Blöße zu verdecken.
Ihr fragt euch, warum die Tür dort ist. Die Frage, wo diese Tür hinführt, habt ihr vergessen, denn ihr seid schon so lange in dem Raum, dass euch nicht mehr einfällt, dass es außer dem Raum noch eine andere Welt gibt. Ihr wisst bloß, dass ihr euren eigenen Atem nicht mehr ertragt, ihr ertragt nicht mehr das Schmerzen eurer Augen durch das viele Weiß und die Kälte der Steine und der Anblick der Blitze, ihr ertragt nicht mehr die Unfähigkeit eures Rückens, euch bücken zu können.
Ihr fragt euch, warum diese Tür dort ist, weil ihr endlich aus diesem schrecklich kleinen Raum rauskommen wollt, in dem ihr schon euren eigenen Atem als den Atem eines Fremden wahrnehmt. Aber diese Tür hat keine Klinke. Eure Welt bricht zusammen. Die erstarrten Blitze an der Wand fangen wieder an zu leben, trotz dass ihr sie nicht aus den Augen lasst. Und ein Gewitter geht los. Ihr hört das Donnergrollen, und seht, wie neue Blitze geboren werden aus Wolken, die so dunkel sind, dass die Sonne es nicht schafft, ihre Strahlen durch sie zu pressen. Aber die Tür ist immer noch dort, das Gewitter hat es nicht geschafft, sie fortzutragen in einen anderen Raum mit anderen Farben, anderen erstarrten Blitzen und anderem Atem. Sie kommt euch ganz einsam, fremd und traurig vor. Sie konnte sich nicht vom Fleck rühren, so wie ihr. Auch sie ist so gefangen in diesem weißen Raum, wie ihr.
Dann merkt ihr, dass die Tür ein Spiegel ist. Und diese Einsamkeit, Fremde und Trauer ist lediglich ein Spiegelbild eurer Selbst. Ihr geht den einen möglichen Schritt nach rechts. Euer Spiegelbild folgt euch in die gleiche Richtung. Dann fangt ihr beide gleichzeitig an euch zu drehen. Ihr dreht euch um eure eigene Achse. Zunächst vorsichtig, denn ihr wollt die Blitze an den Wänden nicht berühren. Dann dreht ihr euch schneller und noch schneller, denn was habt ihr noch zu verlieren? Selbst die Blitze können euch nichts mehr anhaben.
Schließlich verschwimmt alles und euer Spiegelbild und ihr scheint zu verschmelzen. Wer ist das Spiegelbild, wer ist der Mensch? Spielt das eine Rolle? Es gibt nicht mehr das Weiß des Raumes, es gibt kein schmutziges Grau der Blitze mehr, es gibt keinen Spiegel mit eurem Spiegelbild, alles ist verschwommen. Keine Farben. Kein Atem. Kein ihr.
Dann merkt ihr euch langsamer werden. Ihr hört auf euch zu drehen und merkt, dass es nur eure Gedanken waren, die sich wie eine Katze ihren eigenen Schwanz jagend, immer schneller um ihre eigene Achse gedreht haben. Solange, bis sich eure Gedanken und die Gedanken eures Spiegelbildes nicht mehr unterscheiden ließen.