Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Anabel Walia, 23 Jahre
Anne hatte vor etwa einer Stunde im Büro ihres vielleicht zukünftigen Chefs platzgenommen. Sie konnte spüren, dass das Vorstellungsgespräch sich dem Ende neigte.
Herr Metz war um die sechzig Jahre alt, mit grauem, lichten Haar und einem Anzug, der an allen Ecken und Enden kneifen musste. Mit seinem blassen Teint kontrastierte er Anne, die mit ihren schwarzen Haaren und ihrer olivfarbenen Haut die Nacht zu seinem Tag darstellte.
„Also, Frau Singh …“ Metz unterbrach sich selbst. „Was für ein interessanter Name. Wo kommt der eigentlich her?“
„Das weiß ich leider nicht genau“, gab sie zu. Sie war mit einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt und wollte seinen Namen im Grunde auch nicht tragen.
„Und Sie?“, stocherte Metz weiter. „Wo kommen Sie her?“
Anne straffte die Schultern. „Aus München.“
Metz nickte ungeduldig – als wäre ihre Erwiderung nicht das, was er sich erhofft hatte. „Ja, natürlich. Aber wo kommen Sie eigentlich her?“
Anne stutzte. Sie wusste nicht, dass man uneigentliche Heimatstädte haben konnte. „Ich wurde in Neustadt geboren“, sprach sie schließlich die einzige logische Antwort auf seine Frage aus.
Doch das reichte nicht. „Und wo kommen Ihre Eltern her?“
Ein ungutes Gefühl machte sich in Annes Magen breit. Sie war Mitte zwanzig, mit einem Einser-Abschluss und zwei Jahren Berufserfahrung. Nach ihren Eltern wurde sie bei Vorstellungsgesprächen nicht mehr gefragt, seit sie sechzehn gewesen war und es keine anderen Themen gegeben hatte, über die man hatte reden können. „Auch aus Neustadt“, gab sie unbeholfen zurück und hoffte, dass Metz die Sache auf sich beruhen lassen würde. Von einer zerstörten Familie zu sprechen, rückte sie nicht gerade ins beste Licht – auch wenn sie nichts dafür konnte.
„Aber wo kommen sie ursprünglich her?“, fragte er schnippisch.
Plötzlich dämmerte Anne, worauf er hinauswollte. Sie trug einen Blazer und eine Anzughose zu Schuhen mit niedrigen Absätzen. Durch und durch westliche Kleidung. Sie hatte einen deutschen Vornamen, eine deutsche Partnerin, deutsche Freunde und war in einer Gegend aufgewachsen, die man als typisch-deutsches Dorf bezeichnen konnte. Was verleitete Metz dazu, nach dem winzigsten Hinweis darauf zu suchen, dass sie etwas anderes als das war – deutsch? Und warum spielte das überhaupt eine Rolle? Sie wollte einen Job und keine Analyse ihres Genpools.
Ja – sie wollte den Job, rief sie sich ins Gedächtnis. Also musste sie sich zusammenreißen. „Mein Vater“, antwortete sie widerstrebend, „ist zur Hälfte Iraner.“
„Na, dann kommt Ihr Name“, klärte Metz sie in stiefmütterlichem Ton auf, „ja offensichtlich aus dem Iran!“
Anne brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass er das ernst meinte. „Vielleicht“, erwiderte sie zögerlich und hoffte, dass sie jetzt, wo das große Geheimnis gelüftet war, gehen konnte.
Doch Metz musterte sie, als hätte er sie die letzte Stunde über noch gar nicht richtig angesehen. „Sprechen Sie denn auch Arabisch?“, fragte er mit ehrlichem Interesse.
Nicht zum ersten Mal, seit sie Platz genommen hatte, wunderte Anne sich, ob er überhaupt einen Blick in ihren Lebenslauf geworfen hatte. „Nein.“ Ganz abgesehen davon, dass die Amtssprache im Iran Persisch war …
„Ich verstehe.“ Metz nickte bedächtig. „Aber Ihr Deutsch ist wirklich hervorragend. Hat Ihnen das schon einmal jemand gesagt?“
Seine Worte trafen Anne völlig unerwartet. „Als meine Muttersprache sollte es das auch sein!“, entgegnete sie irritiert.
„… doch natürlich reichen Deutschkenntnisse allein auf dieser Position nicht aus. Deshalb wollte ich Sie heute etwas näher kennenlernen. Aber bevor wir zu Ihren Fragen übergehen“ – sein Tonfall ließ erahnen, dass ihr nicht gefallen würde, was als Nächstes kam – „muss ich Ihnen aus gegebenem Anlass mitteilen, dass unsere Kleidervorschriften es verbieten, in Positionen mit direktem Kundenkontakt Kopftücher zu tragen. Ich hoffe, Sie können dies mit Ihren Gepflogenheiten vereinbaren.“
Annes Augen weiteten sich. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Verärgert verschränkte sie die Arme. „Entschuldigung, von welchem gegebenen Anlass sprechen Sie?“
„Naja.“ Metz wedelte mit der Hand in ihre Richtung. „Sie sind doch Iranerin – wahrscheinlich sind Sie dann auch Muslima, oder? Oder Muslimin – wie sagt man noch gleich?“
„Ich weiß nicht“, presste sie unter zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich bin römisch-katholisch.“
„Oh! Was es heutzutage nicht alles gibt!“ Metz grinste.
Anne lächelte gequält.
„Noch eine Frage zum Schluss.“ Endlich! „Besitzen Sie eine in der EU gültige Arbeitserlaubnis?“
Resigniert schüttelte Anne den Kopf. „Ich bin EU-Bürgerin!“
Metz wirkte beruhigt. „Sehr schön. Ich dachte, ich frage noch einmal zur Sicherheit nach, da sie ja doch ein ziemlich exotisches Äußeres haben …“
„Wie bitte?“ Anne konnte ihren Ärger nicht mehr verbergen. „Entschuldigung, aber dieser Kommentar geht nun wirklich zu weit!“
Spöttisch hob Metz eine Braue. „So schlimm?“
Anne kniff die Augen zusammen. „Wenn Sie hier von Ihrem Rassismus sprechen, dann ist er in der Tat so schlimm.“
Metz´ Augen weiteten sich. „Also, Rassismus möchte ich mir beim besten Willen nicht unterstellen lassen!“, verteidigte er sich. „Es ist offensichtlich, dass Sie ein nicht gerade deutsches Aussehen haben. Das wird man ja noch sagen dürfen! Und ich muss Ihnen wohl nicht erklären, dass für diese Position nicht nur Selbstbewusstsein, sondern auch eine kleine Prise Humor vorteilhaft ist.“
Anne atmete tief durch. Das hier war nicht ihre erste Unterhaltung dieser Art, und so sehr sie es sich auch wünschte, es würde nicht die letzte sein. „Ich versichere Ihnen“, sagte sie langsam, „dass ich beides mitbringe. Genauso wie Toleranz, Anstand und Respekt vor Anderen.“
„Wunderbar!“ Metz versuchte gar nicht, seine Kränkung zu überspielen. „Gibt es von Ihrer Seite noch Fragen?“
„Nein.“ Anne stand auf. „Meine Fragen haben sich inzwischen alle von selbst beantwortet.“
Metz sah ihr verwundert hinterher, als sie erhobenen Kinns das Büro verließ.