Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Rebecca Beiter, 25 Jahre
Teil 1: Nachrichtenbeitrag
„Guten Abend meine Damen, Herren und Weitere,
die Nachrichten am Dienstag, 4. Januar 2035.
Unsere Gesellschaft hat sich vor genau 10 Jahren massiv verändert. Wir blicken zurück:
Am 4. Dezember 2025 beschloss das Parlament der Europäischen Nation, Lebenstracker gesetzlich für den Markt zuzulassen. Rebecca Beiter mit den Einzelheiten.
An neun von zehn Armgelenken hängen sie: Mittlerweile nutzen rund 92% der Bevölkerung einen Lebenstracker, meist in Form einer Uhr namens AI-Watch. Lebenstracker sammeln Gesundheitsdaten – und messen, womit wir unsere Zeit verbringen. Lebenszeit ist seither objektivierbar. Um wieder Autonomie über die eigene Zeit zurückzugewinnen, wurde im europäischen Raum die Schule der Zeit errichtet.
Lebenstracker sind zunehmend umstritten: Insbesondere die Prognosefähigkeit der Algorithmen wird debattiert. Viele Wissenschaftler*innen warnen vor den psychischen Konsequenzen, täglich sehen zu können, wann man voraussichtlich sterben wird. Aktuell debattiert das Parlament über einen Gesetzentwurf der Partei der Humanist_innen. Sie fordern, dass Lebenstracker grundsätzlich erst ab 16 Jahren erlaubt und Prognosen zur Lebenszeit generell verboten sein sollen. Über das Gesetz „Selbstbestimmtes Lebensende und analysefreie Kindheit“ entscheidet das Parlament in drei Tagen.“
Teil 2: Szenario
Warum fliegen wir eigentlich zum Mars, aber schaffen es nicht, bequeme Bahnsitze zu entwerfen? Die Bahnfahrt fühlt sich wie eine Ewigkeit an. Obwohl, eigentlich nicht, sie dauerte bisher exakt
„16 Minuten und 43 Sekunden“,
wie mir mein Lebenstracker, meine Uhr AI-Watch, bei diesem Gedanken einblendet.
„Du hast zwei Minuten zum Umsteigen auf Gleis 3.“
Reicht das, muss ich rennen?, frage ich mich, während die Antwort - wie immer - schon berechnet auf meinem Handgelenk steht.
„Nein, du kannst normal gehen.“
Auf dieser speziellen Strecke fällt mir die Zeit immer besonders auf: Die Bahnfahrt führt mich zu meinem Zeitseminar in der Schule der Zeit. Was als Kult, als eine Art Religion begann, ist mittlerweile ein von der Krankenkasse verpflichtender Kurs geworden. Denn: Wir haben die Zeit verlernt.
„Meine Kindheit dauerte ewig, aber sobald ich erwachsen war, verflog die Zeit“, sagte meine Oma immer. Mir geht das nicht so. Ich habe in meinem Lebenstracker ein Diagramm, dass mir jeden Teil meines Lebens genau zeigt. Ich bin 19. Fast fünf volle Jahre verbrachte ich insgesamt mit meinem Learning-Programm und den Hausaufgaben, deutlich weniger Zeit verbrachte ich draußen zusammengerechnet genau 11 Monate, 2 Wochen und 2 Tage. Rund ein Drittel meines Lebens habe ich schon verschlafen.
So, die Bahn auf Gleis 3 gerade noch erwischt.
„Fahrtdauer: 3 Minuten, 12 Sekunden.“
Aus dem Fenster blickend schweifen meine Gedanken weiter ab. Das Zeitempfinden früherer Generationen war geprägt von Emotionen und verschwommenen Erinnerungen, erklärte mir mein Lernprogramm. Doch wenn alles berechenbar ist, die Dauer deines Schulwegs, die Zeit mit Freundinnen – welchen Wert hat Zeit dann noch? Wenn all deine Erinnerungen dokumentiert sind, wie können sie dir länger vorkommen? Mir zumindest kommt meine Kindheit nicht lange vor. Wie auch: Ich sehe täglich meine prognostizierte Lebenszeit im Verhältnis zur bisher gelebten. Was meine Eltern noch gruselig fanden, ist für mich normal.
Sogar praktisch. Wenn ich zu wenig draußen war, werde ich informiert. Oder zu ungesund lebe. Mit Lebenstrackern verlängert sich meine Lebenszeit, weil ich mehr auf mich achte.
„Bitte steige aus. Noch eine Minute Fußweg bis zu deinem Ziel, biege jetzt rechts ab“.
Ich habe meinen Timeslot zum Essen, zum Musizieren, zum Lernen, den mir mein Lebenstracker berechnet und vorgibt. Was planbar ist, wird optimiert geplant. Damit ich meine Lebenszeit ideal nutzen kann. Aktuell habe ich mit hoher Wahrscheinlichkeit noch 76 Jahre vor mir. Eigentlich super!
Doch unser Zeitseminar zeigt mir, was Oma immer gemeint hat. Zeit kann subjektiv sein. Besonders freue ich mich darauf, einfach frei zu entscheiden, was ich tun will – und das tue ich dann. Letztes Mal malte ich einfach drei Stunden ein Mandala aus, nur, weil ich es wollte. Diese Zeit war irgendwie... wertvoller? Sinnvoller? Besser? „Erlebter“, würde mein Zeit-Guru jetzt sagen.
„Du bist pünklich angekommen“,
signalisiert mir meine Uhr. Zum Glück, denn gedankenverloren wäre ich beinahe an dem tempelartigen Gebäude vorbeigelaufen. Über dessen ungewöhnlich verspieltem Eingangstor prangen die Worte „Die Schule der Zeit“.
„Bis in sechseinhalb Stunden“,
verabschiedet sich meine Uhr noch von mir, bevor ich sie in einen der Safes lege, die am Wegrand der Schule der Zeit stehen. Ich weiß, dass mir diese Datenlücke in meiner Lebenszeit länger – und wertvoller vorkommen wird.