Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Anna Schlutter, 19 Jahre
Es ist 17:49 Uhr, der 19. Januar, draußen ist es stockdunkel.
Mein Vater zieht sich eine schwarze Mütze über den Kopf und verabschiedet sich von uns. Er geht joggen. Wohin? „Richtung Freibad.“ Der Weg ist teilweise nicht beleuchtet, eine verlassene Landstraße.
„Viel Spaß.“ Meine Mutter wirft ihm über die gläserne Auflaufform ein Lächeln zu. Sie räumt die Spülmaschine aus.
Ich sitze am Küchentisch und stelle mir vor, dass es andersrum abläuft.
Dass mein Vater die Spülmaschine ausräumt.
Und meine Mutter joggen geht.
Ich frage sie. Würdest du jetzt auch...?
Sie guckt aus dem Fenster in die Dunkelheit. „Nicht alleine, wahrscheinlich.“ Zwei Löffel landen in der Schublade. Dann wandert ihr Blick plötzlich zur Uhr. „Oh, es ist ja erst 6.“ Sie hält einen Moment inne, wirkt unzufrieden mit ihrer Antwort. „Also eine andere Strecke würde ich jetzt natürlich schon noch laufen. Wo auch Straßenbeleuchtung an ist.“
Ich meine aber nicht eine andere Strecke, ich meine genau die Strecke, auf der mein Vater jetzt unterwegs ist.
Und die Tatsache, dass wir uns im Jahr 2020 befinden, Gleichberechtigung von uns in Deutschland als normalste Sache der Welt hingenommen wird und eine Frau sich trotzdem nicht trauen kann, um 18 Uhr abends alleine joggen zu gehen, verstört mich.
Weil das nicht die erste Situation ist, in der mir diese Ungerechtigkeit auffällt.
In Wahrheit fällt es mir ständig auf: wenn in unserem Kaff irgendwo eine Party stattfindet, und die Jungs um vier Uhr nachts einfach nach Hause laufen, anstatt sich ein Taxi zu rufen. Ist zwar fast eine halbe Stunde Fußweg, aber was soll denn schon passieren?
Denkt ihr, meine Freundinnen oder ich hätten das jemals gemacht? Wahrscheinlich nicht, oder?
Und doch habe ich eine Freundin, die nachts manchmal allein nach Hause läuft. Und das, obwohl sie in der absoluten Pampa wohnt. Da braucht man nach Straßenlaternen gar nicht erst zu suchen. Warum? Weil man kein Auto fahren darf, wenn man Alkohol getrunken hat, nicht immer ein Fahrer parat ist und Taxis teuer sind. Eigentlich verständlich, oder?
„Aber nicht, dass du morgen vergewaltigt im Graben liegst.“
So oder so ähnlich fielen die Kommentare, vor allem die Kommentare der Jungs, bei der letzten Hausparty aus, als sich eben diese Freundin auf den Heimweg machen wollte, alleine. Zu Fuß.
Sie haben sich ernsthafte Sorgen gemacht, und ich mir auch.
Aber neben dieser Sorgen sind mir noch andere Gedanken in den Sinn gekommen. Und zwar, dass genau diese Jungs, die meiner Freundin sagen, dass sie nicht nachts alleine nach Hause gehen sollte, weil sie ein Mädchen ist, mich immer auslachen, wenn ich von Feminismus anfange.
„Wer braucht denn heute noch Feminismus?“
Ich, weil ich gern ohne Angst nachts durch die Straßen laufen würde.
Ihr, weil ihr genau diese Problematik erkannt habt.
Ich, weil ich gerne einfach mal anziehen würde, was ich möchte, ohne dass ich mich darum sorgen muss, ob die Hose zu kurz oder das Top zu tief ausgeschnitten ist.
Ihr, weil ihr viel zu oft das Wort Schlampe benutzt.
Ich, weil ich keine Lust mehr habe, von ekeligen alten Männern in Zügen in Gespräche verwickelt zu werden.
Ihr, weil ihr letztens noch damit angegeben habt, später mehr zu verdienen, weil ihr Männer seid.
Ich, weil ihr letztens noch damit angegeben habt, später mehr zu verdienen, weil ihr Männer seid.
Ihr, weil ihr auch Augen im Kopf habt, weil ihr auch seht, wie euer Vater morgens zur Arbeit geht, und eure Mutter auch zur Arbeit geht, aber danach auch noch den kompletten Haushalt schmeißt, während euer Vater schon auf dem Sofa liegt.
Ich, weil mein Professor mich bittet, die Tür aufzulassen, wenn ich allein mit ihm im Büro bin, weil man das wohl irgendwie so machen muss, wenn man als männlicher Professor mit seiner weiblichen Studentin allein ist.
Ihr, weil ihr vielleicht eine Freundin habt und vielleicht irgendwann auch eine Tochter und euch dann auch wünscht, dass sie nachts sicher nach Hause kommt, dass sie im Beruf die gleichen Chancen hat, wie ihre männlichen Mitstreiter und dass sie ernst genommen wird, wenn ihr gesellschaftliche Ungerechtigkeiten auffallen.
Ich, weil ich doof angeguckt werde, wenn ich sage, dass ich meinen Namen bei einer Hochzeit nicht abgeben würde. (Wer hat sich ausgedacht, dass das immer die Frau macht?? Ich bin Anna Schlutter und ich möchte auch immer Anna Schlutter bleiben.)
Ihr, weil ihr auch die Nachrichten seht, Nachrichten aus manchen Ländern, in denen Frauen massenvergewaltigt werden, nicht Auto fahren dürfen, zwangsverheiratet werden, nicht arbeiten dürfen und schlicht und ergreifend keine Rechte haben.
Ich, weil ich auch die Nachrichten sehe, Nachrichten aus manchen Ländern, in denen Frauen massenvergewaltigt werden, nicht Auto fahren dürfen, zwangsverheiratet werden, nicht arbeiten dürfen und schlicht und ergreifend keine Rechte haben.
Ihr, weil es beim Feminismus nicht darum geht, Frauen über Männer zu stellen, sondern Frauen endlich mit Männern gleichzustellen.
Ich, weil es beim Feminismus nicht darum geht, Frauen über Männer zu stellen, sondern Frauen endlich mit Männern gleichzustellen.
Es ist 18:22 Uhr.
Mein Vater kehrt vom Laufen zurück, etwas außer Puste, aber sichtlich zufrieden. Und vor allem eins: sicher und heile.
Meine Mutter sitzt vorm Fernsehen, auf ihrem Schoß eine Unterhose, die gefaltet werden will. Sichtlich müde.
Ich sitze auf dem Sessel, tippe diesen Bericht in meinen Laptop-
und wünsche mir, dass diese Situation irgendwann andersherum stattfinden kann, in jedem Haushalt, zu jeder Tageszeit, in jedem Land.