Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Francesca Hemetsberger, 19 Jahre
Die Straßen sind noch feucht vom Regen, in den Schlaglöchern hat sich Wasser gesammelt, das das spärliche Licht der Straßenlaternen reflektiert. Es ist keine Menschenseele unterwegs und die heruntergekommenen Fassaden der Gebäude verraten, dass ich das bürgerliche Viertel längst verlassen habe. Ich fahre nach Gefühl und finde die richtige Adresse erst beim zweiten Versuch. Das offene, aber doch abweisende Tor mündet auf einen Innenhof, den ich zögerlich betrete. Ich befestige mein Fahrrad an einem der Ständer. Zu meiner Rechten erkenne ich im Halbdunkeln ein metallenes Kreuz an der weißen Hauswand.
Ich gehe ein wenig unsicher durch den von Blauregen überwachsenen Hof auf die einzige erleuchtete Tür zu. Eine füllige Frau in ihren Fünfzigern öffnet mir. Ich erhasche einen Blick auf das Innere. Die Plastikstühle entlang der schmucklosen Wände sind bereits beinahe alle besetzt, obwohl die Sprechstunden gerade erst begonnen haben. Ich beginne zu begreifen, was Sophie mit “langen Abenden” gemeint hat. Die Menschen haben zum Großteil dunkle Hautfarbe, manche sind mit ihren Kindern gekommen, die erstaunlich leise auf dem Schoß ihrer Mütter sitzen oder von den angebotenen Keksen naschen. Die Gesichter sind müde, hoffnungslos. Masken, hinter denen sich Geschichten verbergen, die ich mir gar nicht vorstellen kann.
Die freundliche Dame vom Empfang hat gleich verstanden, wer ich bin. “Sophie hat mir von einem jungen blonden Mädchen erzählt, kommen sie, ich bringe Sie zu ihr.” Das Lächeln ihrer Lippen spiegelt sich sowohl im Funkeln ihrer Augen als auch in der einladenden Geste ihrer Hand wider. Sie führt mich zur angrenzenden Tür.
Sophie erwartet mich schon, eine Tasse dampfenden Kaffees in der Hand. Der Raum ist spärlich möbliert. Zwei Tische, davor und dahinter Stühle, an der Wand ein Regal. Sie stellt mich den anderen Freiwilligen vor, zwei Männern und zwei Frauen. Die drei älteren von ihnen sind um die 60. Die jüngere Frau ist wie Sophie Jurastudentin und hat die Haare zu den zahllosen Zöpfen afrikanischer Frauen geflochten. Danach bin ich an der Reihe. “Ich heiße Francesca und mache einen europäischen Freiwilligendienst. Im Zuge dessen führe ich ein Projekt gegen Diskriminierung und Rassismus, vor allem gegenüber Migranten, durch. Deswegen habe ich euren Verein kontaktiert, um mir ein Bild der Situation zu machen und zu sehen, was ich konkret tun kann.” Cécile, die ältere der Frauen bestätigt mir, nicht ohne eine bittere Note in ihrer Stimme: “Oh ja, zu tun, gibt es genug, Sie werden sehen. Wir versuchen unser Möglichstes, aber manchmal reicht nicht einmal das.”
Es wird Zeit, die Leute hereinzubitten und sie, wenn möglich, mit rechtlichen Ratschlägen oder dem Verfassen offizieller Briefe zu unterstützen.
Ich bleibe bei Cécile und Marie, der Jurastudentin.
Die erste Person, die sich zu uns an den Tisch setzt, ist eine junge Frau, die ihre kleine Tochter in einem Kinderwagen vor sich herschiebt. Das Kind steckt in einem rosaroten Anzug, einen Schnuller im Mund. Ihre Mutter ist kaum älter als ich, vielleicht Anfang zwanzig und in einen grauen Mantel gehüllt. Ihre Augen wirken glanzlos, seltsam verschleiert. Als sie zu reden beginnt, versteht man sie kaum, so leise und undeutlich spricht sie. Es geht um ihre Tochter, erzählt sie stockend, die an einem Hydrocephalus leidet. Sie ist mittlerweile eineinhalb Jahre alt. Man hat sie bereits im Marokko operiert, aber die Wunde hat sich entzündet und das Kind hat Schäden davongetragen. Woher sie denn ursprünglich kommt, will Cécile wissen. Aus Uganda. Wie lange sie schon in Frankreich ist. Seit August, anfangs mit einem Touristenvisum, jetzt ohne. Sie zuckt resigniert mit den Schultern. Welche Schäden? Ihre linke Seite ist gelähmt, der Sehnerv ist verletzt worden und sie leidet an epileptischen Anfällen. Erst jetzt bemerke ich, dass die Kleine auffallend ruhig ist, dass sie nur rhythmisch mit ihrer gesunden Hand winkt, dass ihre Augen auf eine seltsame Weise abwesend wirken. Ob sie schon beim Arzt war. Ja, bei einem Neurologen, der sie zu einem Spezialisten weitergeschickt hat, bei dem sie aber keinen Termin bekommen haben, da dafür eine Überweisung notwendig ist. Eine Überweisung, die ihnen der Neurologe nicht gegeben hat. Ob weitere Arztbesuche geplant seien. Ja, nächste Woche, beim selben Neurologen. Wo sie denn wohne. Sie nuschelt etwas Unverständliches. Es ist Anfang Januar, es friert zwar nicht, aber die Nächte sind dennoch kalt. Ich kann mir gar nicht vorstellen, draußen zu schlafen. Und essen? Die junge Frau nennt eine Hilfsorganisation, die den beiden Frauen bekannt ist. Sie scheinen erleichtert. “Schauen Sie, Sie müssen nächste Woche zu dem Neurologen und ihm klarmachen, wie wichtig diese Überweisung für Sie ist. Setzen Sie sich durch! Sonst… es ist schwer, ein Visum als Elternteil eines erkrankten Kindes zu bekommen. Der Arzt muss bestätigen, dass die Krankheit nur hier in Frankreich geheilt werden kann und nicht in ihrem Heimatland. Ob er das tut… das ist die Frage.” Ob sie Geld habe? Nein, nicht mehr, sie hat es verloren, in Orléans, bei einem Pastor. Sie sinkt immer mehr in sich zusammen. Ich habe das Gefühl, dass sie uns gar nicht mehr wahrnimmt. Das bisschen Hoffnung, das sie vielleicht noch hatte, als sie den Raum betreten hat, scheint verschwunden. Sie bedankt sich ohne uns anzublicken, schließt den Reißverschluss der Jacke ihrer Tochter und schiebt den Kinderwagen schweigend in den klaren Januarabend hinaus.
Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hat, sehen wir uns nur stumm an. “Die Arme.” Mehr bringt Marie nicht über die Lippen.
Es wird Zeit für mich zu gehen. Ich bedanke mich herzlich und frage, ob ich eventuell einmal wiederkommen könnte. “Aber sicher doch! Sie sind immer herzlich willkommen!”