Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Ivy Maler, 14 Jahre
Der Gedanke, dass ich mich schon als ich noch nicht einmal geboren worden war, gegen die Pläne meiner Eltern gewehrt habe, gefällt mir, denn ich war statt dem erhofften Jungen ein Mädchen geworden. Aber diese Tatsache hielt meine Eltern dann dennoch noch nicht davon ab, mein Leben bis zu meiner Rente vorauszuplanen, denn sie mussten ihren eigentlichen Plan nur ein bisschen umwandeln und an ein Mädchen anpassen.
Dass ich von meinen Eltern nicht geliebt wurde, will und kann ich nicht sagen, es war nur immer so, dass ich nicht so sein und leben wollte, wie sie es früher von mir verlangten. Das fing schon bei der Kleiderwahl und dem Haarschnitt an und ging bis zur Berufswahl.
Mit sechs konnte ich mich endlich gegen die Kleider wehren, in die mich meine Mutter zwängen wollte, unter anderem weil mir aufgegangen war, wie effektiv Scheren waren, ein besonders schreckliches rosa Kleid erhielt so zum Beispiel ein extra Loch. Nach ein paar Wochen hatte ich mich so durchgesetzt und durfte fortan Hosen tragen statt Röcken und Kleidern. Die Schere blieb auch in der darauffolgenden Zeit einer meiner besten Freunde. Mit ihr setzte ich auch als ich acht war bei meinen Eltern die gewünschte Kurzhaarfrisur durch, nachdem meine Mutter dem Friseur verboten hatte, mir so eine zu schneiden, machte ich das nämlich einfach selbst und danach konnte meine Mutter mich nicht schnell genug zum Friseur bringen, so schrecklich sah es aus.
Meine Großmutter war die Einzige, die nicht versuchte, mich als das typische Mädchen zu erziehen, das meine Eltern wollten, sondern die darauf einging, was ich schön fand, was mir Spaß machte und wie ich sein wollte. Sie war es auch, die mir die Malstunden finanzierte, denn meine Eltern hielten nicht besonders viel von Kunst. Sie wollten lieber, dass ich mich für Naturwissenschaften interessierte und später eine steile Karriere als Arzt hinlegte und so erzählte ich ihnen nie von dem Traum, Künstler zu werden, den ich hegte, seit ich das erste Mal mit sieben Jahren das Landschaftsgemälde richtig wahrnahm, dass im Flur meiner Großmutter hing. Es zeigte einen Hügel, der nur ein paar hundert Meter von ihrem Haus entfernt war und auf dem wir oft spazieren gingen. Immer wenn ich mit meiner Großmutter dort war, deutete sie auf die Raben, die über uns flogen und sagte: „Sei so wie sie, nur auf deine Weise.“ Was genau sie damit meinte, verstand ich allerdings erst ein paar Jahre später. Sie meinte nämlich damit, dass ich frei sein sollte, auch frei zu wählen, wie ich sein und leben wollte und dabei sollte ich meinen ganz persönlichen, besonderen und anderen Weg gehen.
Dies alles wurde mir an dem traurigen Tag klar, an dem meine Großmutter beerdigt wurde und ich die Raben hoch oben am Himmel kreisen sah. Ich war erst vor kurzem achtzehn geworden und hatte mein Abitur mit guten Noten bestanden und bis dahin nicht wirklich gewusst, ob ich wirklich Kunst studieren sollte und so Gefahr lief, meine Eltern zu verlieren. Doch als ich an diesem grauen und regnerischen Tag die Raben sah, traf ich eine Entscheidung.
Ich betrat meinen Weg und der erste Schritt darauf war, dass ich mir meinen Wunsch erfüllte und meine Haare blau färbte und mir einen großen Raben auf den Rücken tätowieren ließ. Meinen Eltern zeigte ich so, dass ich auf keinen Fall Medizin studieren würde und sie waren so überrascht und vielleicht auch schockiert davon, dass sie keine Einsprüche erhoben, als ich ihnen mitteilte, dass ich Kunst studieren wolle. Von da an brauchte es bis zu dem Beginn meines Studiums, also ungefähr einen Monat, bis sie diese Tatsache komplett akzeptiert und verstanden hatten.
In den nächsten drei Jahren sahen wir uns nicht besonders oft und der Kontakt zu ihnen wurde immer weniger. Trotzdem bereute ich diese Entscheidung nie, denn ich wusste, dass es mir das wert war und das Richtige gewesen war, meinen Weg gewählt zu haben.
Während ich studierte, arbeitete ich nebenher in einem Coffeeshop, denn meine Eltern finanzierten mir zwar trotz allem mein Studium, aber ich träumte von einer eigenen Galerie. Meine Großmutter hatte ein kleines Haus in der Stadt besessen, das sie mir vererbt hatte, aber für die fälligen Umbauarbeiten reichte es trotzdem nicht, nur meine Bilder zu verkaufen, wenn sie denn jemand haben wollte.
In diesem Coffeeshop geschah es, dass mir eine der Stammkundinnen eines der größten Geschenke machte, die ich je in meinem Leben erhalten hatte, denn sie gab mir meinen Künstlernamen, als sie mich einen blauen Raben nannte.
Zum Abschluss meines Studiums passierte es schließlich, dass meine Eltern mich zum ersten Mal besuchen kamen. Als sie bei mir waren, sahen sie auch zum ersten Mal meine Bilder.
Der ganze Besuch lief relativ stumm ab und wir redeten nicht besonders viel. Sie sahen sich nur meine Wohnung und meine Bilder an, wir aßen etwas und dann gingen sie wieder. Doch in der nächsten Woche kamen sie wieder und ich merkte, dass sich etwas verändert hatte. Meine Mutter umarmte mich nämlich mit Tränen in den Augen und als sie noch einmal meine Bilder gesehen hatte, sagte sie mir zum ersten Mal in meinem Leben, dass sie stolz auf mich sei. Ich brauchte da erstmals ein paar Minuten, um das zu realisieren, aber dann folgte eine der schönsten Zeiten, die ich je hatte.
Nun stehe ich bewundernd vor meiner eigenen kleinen Galerie und meine Eltern neben mir, denn sie haben mir, nachdem sie von meinem Plan erfuhren, dabei geholfen, diesen Traum zu verwirklichen. Lächelnd schaue ich in den Himmel und beobachte die Raben, die dort ihre Runden drehen. Unwillkürlich muss ich an meine Großmutter denken und muss noch mehr lächeln. Sie wäre stolz auf mich gewesen, denn ich bin nun so wie die Raben dort oben, aber doch anders, eben auf meine eigene Weise.
Sie hat mir gezeigt, was für mich am wichtigsten ist und auch, dass es sich dafür zu kämpfen lohnt. Und ich bin ihr dankbar, dass sie mir zeigte, wie viel mir Freiheit und auch damit Selbstbestimmung, denn die ist nur eine der vielen Facetten der Freiheit, wert sind.