"85"
Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Nora Hartmann, 15 Jahre
Ich rede zu viel. Zu viele Wörter.
Ich denke nicht nach. Nach… nach den Folgen. Denn Folgen folgen aus meiner Dumm-heit. Der dämlichen Dummheit.
Ich spreche zu viel, lebe meine Gedanken. Trage sie wie ein Tattoo auf meiner Haut. Jeder sieht sie. Es sind zu viele.
„Sei doch still!“, würden sie sagen. – Die klügeren Ichs.
Doch das sagen sie nicht. Sie schweigen, denn sie haben genug geredet.
Ich habe genug von genug.
Nur 85 Wörter am Tag, so sagt es das Gesetz. Nicht ein einziges Wort mehr. Wir müssen mit unseren Worten haushalten, sagen sie. Ökonomisch sein, sparen. Worte sparen…
Ich rede zu viel. Zu viele Wörter. Zu viel für heute. Denn heute zwingt mich die Stille, ihr Gast zu sein.
Ich will sie verfluchen, aber kann nicht mehr fluchen.
Meine Gedanken stechen von innen in meine Lippen… Gedankendornen. Ich schmecke Blut. Schmecke blutige Stille. Ich speie sie aus, wie ein Drache sein Feuer.
Ich rede zu viel.
Nie genug. Nie sind genug Wörter da, um zu sprechen. Wörter für die Wahrheit.
Nur die Nacht hat zugeschaut. Böse lächelnd und stumm zugeschaut.
Auch der Himmel schenkt mir keine Worte. Regen verwischt wortlos alle Spuren.
In mir sind so viele Worte. Meine Worte sind wie Wellen. Die Flut kommt, ich werde ertrinken. Nichts kann das ändern.
85, die heilige Zahl.
85 Wörter am Tag, kein einziges mehr. Nicht einmal ein Flüstern. So sagt es das Gesetz der Mächtigen. Sie wollen uns zum Schweigen bringen.
Ich rede zu viel.
Deshalb halten sie mich für verrückt.
Ich rede zu viel und noch mehr. Meine Zunge schwillt an durch die Last der Wörter. Ich werde ersticken.
Weil sie mir etwas wert sind, die Wörter.
Weil sie der Wert sind, die Wörter.
Weil sie ALLES für mich sind.
Autorin / Autor: Nora Hartmann, 15 Jahre