Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Mirjam B., 23 Jahre
Sie spricht kaum und schaut viel auf den Boden. Komisch sei sie, sagen die anderen. „Nicht von dieser Welt“, hört man ihre Mitschüler murmeln. „Fast immer in Gedanken“, besprechen ihre Lehrer. Und ihre Eltern, die nehmen sie kaum wahr.
Hanna versucht, sich nicht anmerken zu lassen, wie es ihr wirklich geht, wie es in ihrem Inneren aussieht. Sie möchte das nicht, denn das würde sie verletzlich und angreifbar machen. Und verletzt - das wurde sie schon oft genug. Wenn jemandem einmal etwas Schlimmes und Schmerzliches widerfahren ist, macht man viel dafür, damit dies nicht noch einmal passiert. So wie Hanna – in der Schule, Zuhause und in ihrer Freizeit. In der Schule versucht sie nicht aufzufallen, indem sie kaum spricht und wenig Blickkontakt sucht. Zuhause vermeidet sie es, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, indem sie alles macht, was ihre Eltern möchten und auch das, was sie nicht schaffen. So vermeidet sie Konflikte. In ihrer Freizeit schafft sie es, nicht aufzufallen, indem sie so ist, wie die anderen. Sie lacht, scherzt und trinkt. Doch wenn Hanna alleine ist, dann ist sie so, wie sie ist. Sie grübelt und weint. Sie macht sich Gedanken und ist traurig, denn sie erinnert sich. An das, was sie veränderte. An das, was ihr Schmerzen bereitet. Und an das, was sie dazu zwingt, bloß nicht aufzufallen. Nämlich aus Angst - der Motor, der sie antreibt. Auf der einen Seite ist diese Angst gut, denn sie hält sie am Leben. In einem Leben, welches sie schon längst beendet hätte, würde diese große Angst nicht bestehen. Sie hat Angst, ihre Mutter würde sich etwas antun, wenn Hanna vor ihr stirbt. Deshalb lebt Hanna noch. Doch auf der anderen Seite ist die Angst der Motor, der sie antreibt, sich so zu verhalten, wie sie sich verhält und eben nicht sie selbst zu sein.
Die anderen, die sie anschauen und Sprüche reißen, wie „Hanna, heute morgen keine Zeit zum Schminken gehabt?“ wissen nicht, dass sie so blass und verweint aussieht, weil sie die Nacht wieder von ihrem Vater verbal geschlagen wurde. Die Lehrer, die sie für die vergessenen Hausaufgaben tadeln, wissen nicht, dass Hanna den gesamten Haushalt schmeißt, sich um ihre Geschwister kümmert und nebenbei arbeiten geht, damit diese etwas zu essen haben. Ihre Freunde, mit denen sie lacht, wenn sie dann mal Zeit für ein Treffen hat, wissen nicht, dass dieses Lachen eines der größten Schauspiele für Hanna ist, weil ihre Seele weint. Der Verkäufer an der Kasse weiß nicht, dass Hanna so zittert, weil sie tagelang nichts gegessen hat und ihr deshalb das Geld aus der Hand fällt, während sie das Bier für den Vater kauft. Und ihre Sportlehrerin, die weiß nicht, weshalb Hanna nie im T-Shirt Sport macht. Sie ahnt es nur. Anstatt, wie die anderen, wegzusehen und blöde Kommentare abzugeben, nimmt sie sich die Zeit, richtet sich an Hanna und setzt sich mit ihr zusammen. Hanna erkennt, dass ihre Sportlehrerin nur Gutes möchte, und dass sie ihr vertrauen kann und deshalb erzählt sie ihr, dass sie zuhause von ihrem Vater verbal misshandelt wird und dieser einmal sogar körperlich handgreiflich geworden ist. Sie erzählt ihr, dass sie ihrer Mutter unter die Arme greift und ihr im Haushalt hilft, damit ihr Vater nicht ausrastet und sie deswegen selten Hausaufgaben macht. Und dann erzählt sie ihr, weshalb sie nie T-Shirts trägt. Und ihre Lehrerin, die versteht. Sie versteht, dass Hanna mit dem T-Shirt die körperlichen Wunden verdeckt, die sie sich selbst zufügte, um die seelischen Wunden zu unterdrücken. Sie nimmt Hanna in den Arm und verspricht, ihr zu helfen, doch Hanna kann das nicht so recht glauben und fragt sie, warum sie so hilfsbereit sei, immerhin sei sie doch nur eine unter vielen Schülerinnen. Ihre Sportlehrerin lächelt und antwortet darauf : „Das ist mir was wert. Du bist mir was wert!“ Und so ist sie die erste, die Hanna nicht wie eine Aussätzige behandelt, sondern gleich. Hanna bekommt Hilfe, so wie die anderen Hilfe bei der Vorbereitung für Klausuren bekommen. Endlich hat Hanna das Gefühl, gleichberechtigt zu sein und gleich behandelt zu werden. Endlich wird sie nicht nur nach ihrer äußeren Erscheinung beurteilt und man befasst sich mit den Ursachen für ihr Verhalten. So ist Hanna endlich angekommen, weil man sie nun auch, wie die anderen, als einen Menschen sieht und nicht als das komische Wesen, welches sich seltsam verhält. Auch ihr Umfeld merkt das. Es registriert, wie Hanna sich verändert. Und sie fasst all ihren Mut zusammen, stellte sich vor die Klasse und spricht. Hanna rechnet fest damit, ausgelacht oder als „Psycho“ betitelt zu werden. Doch mit dem, was dann geschieht, hätte sie nicht gerechnet. Nach und nach erheben sich ihre Mitschüler und erzählen, dass auch sie Probleme hätten. Friedrich, der immer irgendwelche witzigen Sprüche reißt, erzählt seinen Mitschülern, dass er dies nur mache, um nicht an den Stress mit seiner Freundin denken zu müssen. Sophie, die jeden Morgen drei Stunden vor dem Spiegel verbringt, erzählt, dass ihr das Schminken dabei helfe, ihre inneren Probleme zu übermalen und Herr Sauermann, welcher als strengster Lehrer der Schule galt, berichtet, dass er früher total schüchtern gewesen sei und seine Strenge eigentlich nur ein Ausdruck seiner inneren Verletztheit ist. Hanna versteht, dass jeder Mensch Probleme hat und diese auf seine persönliche Weise kompensiert. Sie bemerkt außerdem, dass alle hinter ihr stehen und sie endlich so sein kann, wie sie ist - nämlich Hannah. Das Mädchen, das gerne zeichnet und dabei klassische Musik hört. Die junge Frau, die beim Schauen von Liebesfilmen schluchzend vor dem Fernseher sitzt und die Schülerin, die viel mehr kann, als nur still in der Ecke zu sitzen.
Psychische Störungen sind keine Seltenheit und vor allem stellen sie keinen Grund dar, sich zu schämen. Außerdem sollte man niemals einen Menschen nach seinem Äußeren beurteilen und über ihn reden, sondern mit ihm sprechen. Der Grund dafür ist ganz simpel: Er sollte es dir wert sein!