Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Carolin von Ohle, 16 Jahre
Ich bin doch immer noch der gleiche Mensch. Eure Tochter.
Die Worte hallten in Carlas Kopf nach, als hätte sie sie gerade erst ausgesprochen. Das Klappern des Buttermesser auf ihrem Teller durchbrach die Stille, die wie schwerer, kalter Schlamm über dem Esstisch lag und in jede noch so kleine Lücke drang. Ihre Eltern schauten nicht einmal auf.
„Bis später“, sagte sie leise, erhielt aber keine Antwort.
Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, hörte sie das dumpfe Murmeln ihrer Eltern. Ihre Nase kribbelte und sie blinzelte heftig.
Sie lief durch den Flur in ihr Zimmer und schloss die Tür etwas energischer als üblich. Carla ließ sich auf ihr Bett fallen und schob ihre Decke zur Seite, die ihr unangenehm unter dem Rücken lag. Auf dem blauen Bezug befand sich noch immer der Colafleck, den sie vor zwei Wochen verursacht hatte, an jenem Abend. An dem Abend, an dem sie weinend und ohne die nicht zugedrehte Flasche zu beachten auf ihre Matratze eingeschlagen hatte. Der Abend, an dem sie ihren Eltern gesagt hatte, dass sie Mädchen liebte. Der Abend, seit dem weder ihr Vater, noch ihre Mutter mehr als das Nötigste mit ihr geredet hatte. Als wäre sie Dreck.
Ein frischer Bettbezug lag verloren auf dem Boden neben dem Schrank. Carlas Mutter hatte ihn wortlos in ihr Zimmer gelegt und Carla selbst hatte noch nicht die Kraft aufbringen können, den befleckten gegen diesen auszutauschen.
Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen und geschlafen, am besten, ohne je wieder aufzuwachen, aber sie musste zur Schule. Sie wollte keinen Ärger mit ihren Eltern, weil sie die Schule schwänzte. Vielleicht würden sie aber dann mehr als zwei Sätze mit mir reden, überlegte Carla und lachte laut auf. Sie schüttelte den Kopf, erhob sich und packte ihre Schultasche, die neben dem Bett stand. Dann verließ sie das Haus, ohne sich von ihren Eltern zu verabschieden.
Carla genoss die kurzen Umarmungen, die sie von ihren Freundinnen zur Begrüßung in der Schule bekam. Auch vor ihnen hatte sie sich geoutet, doch es schien sie nicht zu stören. Doch wenn sie die anderen Mädchen beobachtete, wie sie sich gegenseitig begrüßten, verhielten sie sich anders. Die Umarmungen waren vielleicht etwas enger und dauerten länger an. Oder? Sicher sah sie nur Gespenster und nahm an, dass, nur weil ihre Eltern in ihrem konservativen Bild von Beziehungen feststeckten, dies auch alle anderen Menschen in dieser verdrehten Welt taten.
Zusammen mit einigen ihrer Freundinnen ging sie zu den Spinden, um ihre Bücher für den Unterricht zu holen. Carla öffnete die Metalltür ihres Spinds und warf einen kurzen, dankbaren Blick auf die Regenbogenflagge, die sie schon vor einiger Zeit auf die Innenseite geklebt hatte. Als sie gerade nach ihren Büchern greifen wollte, fiel ihr ein flach gefalteter Zettel auf, der wohl durch den kleinen Spalt unter der Spindtür hindurch geschoben worden sein musste. Mit gerunzelter Stirn faltete sie das karierte Papier auf und erstarrte, als sie das Wort las, welches auf das Papier gekritzelt worden war. Lesbenhure. Unwillkürlich schaute sie sich um und zerknüllte dann den Zettel in ihrer Hand, bis ihre Fingernägel durch das dünne Papier stießen. Die Farben der Regenbogenflagge in ihrem Spind verschwammen unter den Tränen, die sich trotz aller Anstrengung, sie zurückzuhalten, schmerzhaft aus ihren Augen drückten.
„Carla?“, fragte jemand vorsichtig.
„Was?“, zischte sie und zog sich grimmig einen Kopfhörer aus dem Ohr. Carla schaute zu dem Mädchen auf, welches vor ihr stand. Der leichte Wind, der die Blätter in den Bäumen auf dem Schulhof rascheln ließ, wehte das dunkle Haar des Mädchens sacht gegen ihre runden Wangen. Carla kannte sie vom Sehen, sie besuchte die Klasse unter ihr.
„Ich wollte dich nicht stören“, sagte das Mädchen leise.
„Ist schon in Ordnung“, erwiderte Carla müde und legte den anderen Kopfhörer ebenfalls in ihren Schoß. „Worum geht’s denn?“
Nach kurzem Zögern setzte sich das Mädchen neben sie auf die Bank, auf der Carla gern ihre Freistunden verbrachte. „Ich wollte dir nur sagen, dass ich es mutig und toll finde, dass du dich geoutet hast. Auch, wenn du wahrscheinlich nicht wolltest, dass es jeder erfährt“, plapperte sie los und lächelte Carla schüchtern an.
„Da hast du recht, das wollte ich nicht. Aber ich konnte wohl meinen Freunden nicht so vertrauen, wie ich dachte“, antwortete Carla und wich ihrem Blick aus. „Aber danke.“
„Gerne“, kam sofort die Reaktion. Eine kurze Pause entstand. Die Blätter der Bäume raschelten, irgendwo begann ein Vogel zu singen. Carla erwog bereits, sich wieder die Kopfhörer in die Ohren zu stecken, da begann das Mädchen wieder zu sprechen. Ihre Stimme klang zittrig und Carla drehte sich wieder zu ihr.
„Weißt du“, sagte das Mädchen und vermied nun ihrerseits Augenkontakt. „Du hast mich ermutigt, mich auch zu outen. Ich habe es noch nicht gemacht, aber ich möchte es meinen Freunden in den nächsten Tagen sagen.“
„Mach das unbedingt“, sagte Carla und spürte, wie sich ihre Lippen zu einem traurigen Lächeln verzogen. „Egal, welche Reaktionen du bekommst, du fühlst dich danach besser.“
„Also bereust du es nicht?“
„Ich habe es keinen Tag bereut.“
„Danke, dass du es zuerst gemacht hast. Ich bin bestimmt nicht die einzige, der du damit sehr geholfen hast.“ Das Mädchen stand auf und lächelte Carla an.
„Viel Glück“, sagte Carla und lächelte zurück.
Während sie beobachtete, wie sich das Mädchen über den Schulhof entfernte, breitete sich eine angenehme Wärme in ihr aus, die alles Negative vertrieb, wenn auch nur für diesen Moment. Zum ersten Mal war sie wirklich stolz auf sich, für das, was sie sich getraut hatte. Und die Vögel sangen immer noch, als wären sie es auch.