Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Franziska, 14 Jahre
Es war ein gewöhnlicher Donnerstagnachmittag, in einer ganz gewöhnlichen Woche, mitten im Jahr. Ich saß auf dem alten ausgesessenen Sofa in unserer gemütlichen Küche neben meiner Mutter. Vor mir stand eine dampfende Tasse Tee, hinter mir lag ein anstrengender Schultag. Alles hätte so schön sein können, wäre meine Mutter nicht eben auf die blöde Idee gekommen, mir einen Test zum Thema Suchtgefahr unter meine Nase zu halten. Wo nehmen Eltern eigentlich die Zeit her für so etwas, wo sie doch sonst nicht müde werden, über ihre fehlende Zeit zu klagen.
Ich machte mich also daran, die nicht enden wollenden Fragen zu beantworten. Ich musste irgendwo bei Nummer 22 gewesen sein, als ich zum ersten Mal über eine Frage richtig nachzudenken begann. „Was tust du, wenn du etwas erleben möchtest?“
Ich wusste schon, auf welche Antworten der Fragesteller da hinauswollte, nämlich darauf, dass man dann in den Club geht, sich betrinkt oder Drogen nimmt. Aber bei mir traf nichts dergleichen auch nur im Entferntesten zu. Hieß das, dass ich langweilig war und noch nie etwas erlebt hatte? Was hieß das überhaupt, etwas zu erleben? Konnte ich, eine Normalsterbliche aus meiner Stadt überhaupt etwas Interessantes erleben?
Nachdem ich ausgiebig darüber nachgedacht hatte, nahm ich mir für den nächsten Tag vor, mich auf die Suche nach einem ganz besonderen Erlebnis zu machen: Mit nur dem Nötigsten ausgerüstet, verließ ich am nächsten Morgen das Haus und fühlte mich dabei ein wenig wie eine Entdeckerin auf der Suche nach dem Ungewissen. Ich schritt euphorisch auf die Straße hinaus und ging erstmal geradeaus und immer weiter. Rechts von mir lagen die penibel gepflegten Vorgärten unserer Nachbarn, links von mir der örtliche Kindergarten, aus dem, wie immer, lautes Kindergeschrei zu hören war. Ich ging und ging, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Die anfängliche Euphorie war langsam abgeklungen, und meine Füße begannen allmählich, sich bemerkbar zu machen. War ich erst eine viertel Stunde unterwegs?
Ohne dass ich es bemerkt hatte, war ich zur alten Schloss-Bibliothek gelaufen. Vielleicht würde ich hier ein passendes Buch zum Thema finden? Als ich die alten Gemäuer betrat, war es wie ein Schritt in eine andere Welt. Hier war ich lange nicht mehr gewesen. Da, wo das Sonnenlicht durch das Fenster flutete, tanzten Staubkörner durch die Luft, zu einer Melodie, die nur sie vernahmen. Es herrschte eine Stille, die von leisen flüsternden Stimmen und dem Rascheln von Seiten untermalt wurde. Und erst die Bücher: In allen Farben und Formen standen sie in hunderten von Regalen bis unter die Decke. Sie schienen ein Geheimnis zu wahren, über das sie sich leise wispernd austauschten. Ja, das war genau der Ort, an dem ich gerade sein wollte. Allein für diesen wunderbaren Moment hatte sich der Weg hierhin schon gelohnt.
Ein paar Minuten später hatte ich es mir mit einer Auswahl an Büchern und mit einer Tasse heißer Schokolade auf einem Sessel gemütlich gemacht. Ich stöberte ein bisschen in den Büchern, las mal diesen, mal jenen Abschnitt, als die Stille plötzlich von zwei laut lachenden Stimmen unterbrochen wurde.
Zwei Mädchen kamen herein. Sie fingen an, sich leise zu unterhalten. Eine der Beiden kannte ich. Jeder an meiner Schule kannte sie, denn sie sah einfach umwerfend aus, lachte viel und hatte für Jeden ein freundliches Wort übrig. Was machte sie denn hier? Die Andere war nach dem Akzent nach zufolge noch nicht lange in Deutschland. War sie vielleicht ein Flüchtling? Wenn ja, dann hatte sie bestimmt schon Vieles erlebt…vermutlich viel Schreckliches. Plötzlich hatte das Wort Erleben einen fahlen Beigeschmack. Mir wurde auf einmal bewusst, dass es auch durchaus Negatives zu erleben gab. Durch einen spontanen Anfall von Mut ergriffen, ging ich offen auf die Beiden zu und fragte das fremdländische Mädchen nach ihrer Geschichte und nach ihrer Interpretation von dem "Etwas Erleben". Ich war sehr erstaunt, wie bereitwillig sie mir antwortete und mir ihre ganze Geschichte erzählte.
Sie hieß Mirijam und war in Syrien aufgewachsen, in einem kleinen Häuschen am Rande eines Dorfes. Doch dann war der Krieg immer schlimmer und grausamer geworden. Jeden Tag hatte sie mit einer unvorstellbaren Angst leben müssen, ihre Familie zu verlieren und zu sterben. Rings um sie herum schlugen Bomben ein, Häuser wurden angezündet und Menschen einfach so erschossen. Schließlich hatte sich die Familie schweren Herzens entschlossen, zu fliehen. Denn in Syrien hatte es keine Zukunft mehr für sie gegeben. Es war eine lange und beschwerliche Reise ins Ungewisse. Ihr einziger Anhaltspunkt war Europa.
Ich war geschockt, mit welcher Grausamkeit man ihnen an den Grenzen und mit welcher Feindseligkeit man ihnen, selbst hier, in unserem kleinen Ort, begegnet war und auch jetzt noch begegnete, nur, weil sie anders aussah und einer anderen Kultur angehörte.
Am Ende antwortete sie noch auf meine Frage, was es für sie heiße, etwas Besonderes zu erleben, nämlich, am Morgen zuerst einmal ohne Angst aufzuwachen, um dann in einen Tag voller Möglichkeiten einzusteigen, mit der Gewissheit, abends etwas geschafft zu haben, zur Schule gegangen zu sein, Freunde getroffen zu haben, eben allerlei Dinge getan und erlebt zu haben, von denen sie in ihrer Heimat nur hätte träumen können.
Das alles war für mich bis jetzt immer so selbstverständlich gewesen, dass ich es gar nicht als etwas Besonderes empfunden hatte. Sie erzählte mir von Mitmenschen, die sie persönlich wahrgenommen hatten, die nicht mit verachtenden Blicken an ihr vorbei gegangen waren. Dabei schaute sie voller Bewunderung zu Maja, dem anderen Mädchen neben ihr. Sie hatte ihr nämlich in den ersten Wochen nach ihrer Ankunft dabei geholfen, Deutsch zu lernen und in der Schule zurechtzukommen.
Tief beeindruckt von ihren Worten, machte ich mich schließlich auf den Weg nach Hause. Etwas Besonderes erlebt hatte ich in jedem Fall. Ich hatte Mirijam getroffen.