Der zweite Blick
Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Leonie F., 20 Jahre
Eine kratzige Stimme dringt an sein Ohr. Wenige Worte, die ihn aus seiner Abwesenheit reißen.
„Was hältst du von den Gemälden?“
Achselzucken.
„Warum bist du hier, wenn du sie nicht beachtest?“
Der junge Mann fasst sich ein Herz für die alte Dame, die offensichtlich die Taktik des plötzlichen Smalltalks bestens beherrscht und lässt sich in das Gespräch verwickeln.
„Schulausflug. Dauernd herumzustehen ist anstrengend. Da kommt mir die Bank gerade gelegen.“
Das scheint die alte Dame zu erheitern. „Erfreuliche Umstände. Da wir beide sowieso hier sind, kann ich bestimmt fragen: Was hältst du von den Bildern dort?“
Er verkneift sich das Augenrollen, blickt von dem faltigen Gesicht auf die wolkenweiße Wand direkt vor seiner Nase.
„Hübsch.“ Eine Spur von Ironie und Gleichgültigkeit kann er sich nicht verkneifen. Doch je länger er die Kunst beäugt, desto mehr fließen die roten und schwarzen Pinselstrichen ineinander und bilden gruselige Fratzen. Es jagt ihm einen unerwarteten Schauer über den Rücken.
„Es ist beeindruckend, was Kunst alles übermitteln kann.“ Sie klingt hypnotisiert.
„Es sind nur Bilder.“
Die Frau lacht kurz auf. Ob belustigt oder spöttisch kann er nicht einschätzen. „Ob das wohl alles ist?“
„Keinen Schimmer.“ Unbeteiligt zuckt er mit den Schultern.
„Ach...“ Die Frau seufzt. „Was es auch war, dass die Künstlerin zu solch einer Selbstdarstellung gebracht hat, es muss schrecklich gewesen sein. Mich schmerzt besonders der Anblick des Säuglings.“
Ein erschreckendes Prickeln wandert wie aus dem Nichts über seine Wangen den Rücken hinunter, weil ihm die Bedeutung ihrer Worte klar wird. Ein verzerrtes Gesicht, kaum das eines Babys. Der Körper mit grünen und blauen Flecken übersät.
„Missbrauch?“. Weitere Worte bleiben dem Jungen im Halse stecken. Auf einmal schaut sie ihm tief in die Augen.
„Mein Junge.“, beginnt sie und legt eine bedeutungsvolle Pause ein. „Die Kunst ist eine Möglichkeit, sich selbst auszudrücken. Wir wissen nichts über die Künstlerin, und doch offenbart sie uns ihre ganze Welt mit nur drei Werken. Sieh dir einmal das Dritte an.“
Sofort stechen ihm die übergroßen düsteren Figuren hinter der nun erwachsenen Person ins Auge. Erhaben und urteilend schauen sie in das leblose Gesicht der jungen Frau unter ihnen.
„Es wirkt wie eine Geschichte.“
„Und ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass diese zwei Riesen eine wichtige Rolle spielen? In diesem Bild packen ihre großen Pranken die arme Frau an den Schultern, genauso wie sie es bei dem Säugling getan haben. Blutergüsse und seelische Narben trägt sie ab hier mit sich.“
Ihr knochiger Finger zeigt auf die jugendlich aussehende Malerin in der Mitte, das zweite Bild. Umringt von Rauch und mit Schatten überzogen posiert sie dort.
„Doch warum ist sie immer nackt? “, fragt er nachdenklich.
„Womöglich drückt es am Besten aus, wie schutzlos sie sich gefühlt hat. Auch wenn es wohl diesen kleinen Lichtblick gegeben hat.“ Sie zeigt auf das Mädchen neben der Künstlerin, betört steht sie neben ihr und verdeckt Teile des Körpers mit ihrem eigenen.
„Siehst du, wie vertraut sie wirken? Es könnte mehr als das dahinterstecken. Sie sehen verliebt aus.“
Der Junge erkennt, was sie andeutet und schweigt. Ein schwerer Klumpen entsteht in seiner Brust, welchen er schon seit langer Zeit verzweifelt versucht zu unterdrücken.
„Leider ist sie auf dem dritten Bild nicht mehr zu sehen.“, presst er mit bebender Stimme hervor.
„Das ist bestimmt kein gutes Zeichen.“
Kalter Schweiß sammelt sich in seinen Fäusten. Die Alte setzt ihren Redeschwall fort.
„Die Jugend ist eine Zeit der Selbstfindung, nicht wahr? Das dürftest du am Besten verstehen. Genauso wie diese Zeit der Gefühle chaotisch ist, ist es auch das Bild.“
Ihre Augen schauen in diesem Moment in eine andere, nur für sie sichtbare Welt.
„Hat ihr wohl nicht geholfen.“, murmelt er.
„Traurig, nicht wahr? Sie konnte den Fängen ihrer Eltern anscheinend nicht entkommen, wie das dritte Bild vermuten lässt. Warum das Mädchen ihr nicht geholfen hat, werden wir nie erfahren. Vielleicht war sie die Falsche.“
„Die Falsche?“, wiederholt er.
„Um sie zu retten. Es reicht nicht nur ein Blick hinter die Kulissen einer Person, mein Lieber. Man benötigt mindestens einen Zweiten, um diese Geschehnisse zu deuten. Wie bei den Gemälden auch.“
„Das ist mir zu hoch.“ Seine Stimme kaum mehr als ein Hauch.
„Die wichtigste Frage ist doch: Hätte es verhindert werden können?“
Er atmet tief durch.
„Ich weiß es nicht.“
Sie lächelt. „Ich denke, es hätte alles sein können. Alles, was ihr auch nur ein Fünkchen Entschlossenheit genommen hätte, um diese Grenze zu überschreiten. Doch selbst das war dem Mädchen nicht vergönnt. Nicht einmal durch diese Freundin, wie es scheint.“
„Wie endet diese Geschichte?“
In diesem Moment wirkt ihr Gesicht wie versteinert.
„Vor langer Zeit schon hat sie geendet, mein Junge. Sie hat sich von der Qual befreit, als ihr niemand geholfen hat. Es hätte nicht so kommen müssen. Wer weiß, vielleicht hätte schon das ein oder andere liebevolle Wort ausgereicht, um ihre Situation erträglich zu machen. Kleine Taten haben große Wirkungen.“
Eine entfernte Stimme reißt sie aus ihrer Unterhaltung und durchbricht die Barriere, welche sie von der Welt abgeschirmt hat.
„Komm schon!“, drängt er. Erleichtert entfernt er sich von der alten Frau. Als er nach kurzer Zeit in der Gruppe von Schulkameraden fortläuft, dreht er sich noch ein letztes Mal zu ihr um. Da ist eine andere Person gekommen und setzt sich auf die Bank. Die Alte sitzt noch immer da, er sieht ihre sich bewegenden Lippen und weiß, was passiert. Irritiert versucht er es nicht zu beachten und kommt dabei nicht umhin, mit den Fingern unter den Ärmel seiner Jacke zu greifen. Dass sein Pflaster noch auf der Haut haftet ist beruhigend. Sein Kopf aber kann das Gespräch nicht vergessen. In diesem Moment scheint ihm die Luft auszugehen. Ob die Künstlerin auch jeden Tag gedroht hat zu ersticken, bis sie es freiwillig getan hat?
Autorin / Autor: Leonie F., 20 Jahre