Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Theresa Horstbrink, 19 Jahre
Der Herbst fiel dieses Jahr ungewöhnlich kalt und stürmisch aus. Sie zog den Mantel enger um sich und stapfte durch die knöchelhohen Blätterhaufen, die in regelmäßigen Abständen den Gehweg blockierten.
„Mistwetter“, dachte sie sich.
Und ausgerechnet heute hatte sie natürlich keine wasserdichten Schuhe angezogen. Noch zwei Querstraßen weiter, dann wäre sie endlich da. Die Glasfassaden der beiden Bürotürme von C&C überragten selbst die Hochhäuser im nahegelegenen Bankenviertel und dominierten seit nunmehr siebzehn Jahren das gesamte Stadtbild.
Noch fünf Minuten Fußweg, maximal. Ihr Ziel befand sich auf der 22. Etage, hinter der dritten Tür auf der linken Seite, mit Panoramablick auf den Stadtpark. Jamila hatte ihr die Wegbeschreibung und die Raumpläne direkt aufs Handy geschickt, gleich nachdem sie den Termin für das Vorstellungsgespräch in den Bereichskalender eingetragen hatte. Sie hatten sich extra auf ein „Vorstellungsgespräch“ geeinigt, denn nichts wirkt harmloser auf die Personalabteilung eines erfolgreichen Unternehmens, als ein motivierter Bewerber.
Wie auf Kommando begann ihr Handy zu vibrieren, während das Display das breite Grinsen von Jamila anzeigte. Auch ihr war jetzt sicherlich nicht mehr zum Lachen zu Mute, dafür war die Aufregung viel zu groß.
„Nervös?“, schallte es aus dem Lautsprecher, als sie mit zitternden Fingern über den Bildschirm strich und das Gespräch annahm. „Nervös sein ist in Ordnung, nur Angst darfst du keine haben. Immerhin glaube ich an dich“.
Sie war furchtbar nervös. Und Angst, die hatte sie auch.
Angst vor dem Versagen.
Angst, wieder nicht gut genug zu sein.
Angst davor, erwischt zu werden.
Und natürlich auch Angst um all die Menschen, die darauf vertrauten, dass sie sich nicht erwischen ließ.
„Mach dir keine Sorgen“, antwortete sie, und fühlte sich dabei nicht einmal halb so sicher, wie sie eigentlich klingen wollte. Wo war denn bloß immer der Martini, wenn man ihn mal brauchte?
Sie bog um die letzte Ecke und stand schon fast vor der gläsernen Eingangstür mit dem Firmenlogo. Nur noch ein paar Schritte, dann wäre der schwierigste Teil des Weges schon geschafft.
„Hast du den Stick?“, drang Jamilas Stimme wieder an ihr Ohr.
Richtig, der Stick. Ohne ihn wäre die ganze Aktion völlig umsonst. Die Monate der Vorbereitung, die unzähligen Stunden, die sie über ihren alten Laptop gebeugt auf dem Fußboden verbracht hatten, all diese Arbeit konnte durch einen winzigen Fehler zunichte gemacht werden. Durch einen einzigen Fehler ihrerseits.
Ihre Finger tasteten nach der kleinen Erhebung in der Brusttasche ihres Mantels. Erleichtert atmete sie auf, als sie das Aluminiumgehäuse streifte. Er war noch da, genau wie vor einer halben Stunde, als sie sich in den stürmischen Herbstnachmittag hinaus gewagt hatte. Der Blick fokussiert, das Herz in den Kniekehlen hängend.
„Jamila, ich glaub ich hab doch Angst“, flüsterte sie und konnte den kalten Schauer, der ihren Rücken hinunter lief nicht unterdrücken.
„Ich weiß“. Die Antwort überraschte sie.
War es nicht Jamila gewesen, der es immer so wichtig war, keine Furcht zu zeigen?
„Aber wir tun ja niemandem weh, und wir stehlen auch nichts“.
Sie wollte schon einwenden, dass das ja nicht so ganz richtig war, als Jamila auch schon in Gelächter ausbrach.
„Na gut, wir stehlen schon etwas, aber es sind ja bloß Daten. Du holst sie dir und legst sie unter eine Käseglocke. Ganz einfach. Wir retten Menschenleben damit, mein Schatz, wir sind doch die Guten hier“, flüsterte sie dann eindringlich.
Und irgendwo in ihrem Tonfall fand sich die Versicherung, dass alles andere egal wäre, wenn bloß der Stick mit den Daten zu ihnen gelangen würde.
„Okay, bis gleich“, flüsterte sie und lauschte für einige Sekunden der Stille, die Jamilas Worte in ihr hinterlassen hatten.
„Ich packe das“, sagte sie sich und beendete das Gespräch.
Und mit einem letzten tiefen Atemzug betrat sie das Gebäude, bereit, für dieses kleine Stück aus Aluminium alles zu riskieren.