Hirngespinste

Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Elisa Ela Arslan, 17 Jahre

Es gab einmal eine Welt, in der Frauen und Männer gleichberechtigt waren. Jeder wurde für die gleiche Arbeit gleich bezahlt, niemand wurde als das schwache Geschlecht angesehen, und nirgendwo wurden Neugeborene aufgrund ihres Geschlechts ausgesetzt. Was eine schöne Utopie. Aber es ist eben eine Utopie. Wenn ich mich in Deutschland über mangelnde Gleichberechtigung beschwere, bekomme ich oft nur ein unverständliches Kopfschütteln und einen Verweis auf andere Länder, “wo Frauen ja nicht mal alleine aus dem Haus dürften”. Doch heißt das, weil in anderen Ländern Frauen Grundrechte verwehrt werden, unsere dagegen klein erscheinenden Missstände unwichtig sind? Warum wird Kritik an sexistischen Witzen als simple ,Political Correctness’ abgetan?

Unsere Gesellschaft liebt es, Frauen in Schubladen zu stecken. Und das oft unbewusst. Frauen sind entweder intelligent oder schön, stark oder weiblich. Wir arbeiten zu hart oder nicht hart genug, wir sind zu laut oder zu leise. Den Erwartungen, denen wir uns täglich stellen müssen, kann man als Frau nie entsprechen. Dabei ist beispielsweise mein ganzes Leben ein Widerspruch: Ich habe einen türkischen Migrationshintergrund, gleichzeitig besuche ich ein Internat für Hochbegabte (und das als einzige Türkin). Während mich in meinem Umfeld jeder als entschiedene Feministin bezeichnen würde, darf ich als älteste Tochter bei Familienbesuchen im anatolischen Dorf den Tee und Kaffee servieren. Von allen Seiten werden verschiedene Erwartungen an uns gestellt, die sich im besten Fall auch noch widersprechen. Kein Wunder, dass unsere persönlichen Wünsche und Erwartungen oft hinten angestellt werden. Die Erwartungen und Grenzen, die Frauen von der Gesellschaft aufgedrückt bekommen, sind so unsichtbar und in unseren Köpfen verankert, dass wenige diese in Frage stellen. Dabei spürt man, wie diese unsichtbare Last von unseren Schultern genommen wird, sobald wir es wagen, einfach loszulassen.

Dabei ist das Überraschendste ein Satz, den wir alle schon einmal gehört haben: Zusammen sind wir stärker. Gerade Frauen könnten von Zusammenhalt profitieren, da alle gemeinsam viel mehr bewirken können. Aber gerade wir sind berühmt-berüchtigt für Rivalität untereinander und hinterhältiges Lästern. Wenn Frauen zumindest aufeinander zählen können, wäre es so viel simpler für uns alle. Männer unterstützen tendenziell Männer, warum also schaffen Frauen nicht dasselbe? Ansonsten hätten wir wohl weitaus mehr weibliche Frauen in Spitzenpositionen in Politik und Wirtschaft. Männer wählen prozentual eher Männer, und Frauen wählen tendenziell eher Männer. Wer wählt dann Frauen? Kein Wunder, dass nur ein Drittel aller Abgeordneten im Bundestag weiblich sind. Wenn wir zusammenhalten würden, könnten wir unbekümmerter loslassen.
Loslassen. Leichter gesagt, als getan. Und selbst, wenn wir es schaffen, loszulassen, wird sich die Sichtweise von vielen Menschen nie ändern. Wenn eine Frau mit türkischen Migrationshintergrund einen Nobelpreis gewinnen würde, bliebe sie für viele diese eine Türkin. Plötzlich machen nicht mehr Taten und Errungenschaften einen Menschen aus, sondern ein einziger Stempel. Dieses Schubladendenken ist so schädlich wie es erniedrigend ist, da man selber keinerlei Einfluss darauf nehmen kann. Deshalb ist es auch so befreiend, loszulassen. Plötzlich öffnen sich zahlreiche Türen, und all die Möglichkeiten in der Welt stehen einem offen.

Ich glaube ja, dass viele Männer schlichtweg Angst haben. Lange war es von Vorteil, Mann zu sein. Gleiche Qualifikationen, aber die Frau muss sich schließlich bald um Kinder kümmern und ist weniger durchsetzungsfähig. Und wenn sie eben doch durchsetzungsfähig ist, muss sie wohl aggressiv und verbissen sein. Also wird der Mann genommen. Im Unterbewusstsein sind sich Männer oft diesen Privileges bewusst und konnten sich auf dieser Tatsache ausruhen. Doch, plötzlich, zeigt sich Veränderung. Fortschritt. Frauen können doch viel. Die Zeiten ändern sich, langsam aber stetig. Die Rede ist von Frauenquoten, Frauenanteil, da muss Man(n) sicherlich Angst haben. Von heute auf morgen hat man doppelt so viel Konkurrenz, Konkurrenz die entschlossen, klug, und leistungsfähig ist. Von nun an soll es heißen: Wer mehr leistet, kommt weiter.

Zumindest in der Theorie ist Deutschland ein chancen- und leistungsgerechter Staat, also sollte eigentlich jeder profitieren, wo er leistet. In der Praxis funktioniert das Ganze ziemlich abgespeckt: Mit unserer modernen Form der Segregation, dem dreigliedrigen System an weiterführenden Schulen, sind unsere Wege und Zukunft meist von Geburt an vorbestimmt. Natürlich gibt es Ausreißer und Aufsteiger, aber die Statistiken lügen nicht. Wer aus einer Akademikerfamilie kommt, wird höchstwahrscheinlich Abitur machen und studieren, ein Arbeiterkind wohl eine Ausbildung. Wir alle kenne diese Zahlen. Dabei ist es ein wenig ironisch, dass ausgerechnet ich es mir anmaße dieses System zu kritisieren: Wer eine Schule besucht, die “Landesgymnasium für Hochbegabte” heißt, bekommt Bildung in ihrer schönsten Form aufgetischt. Aber niemand verlangt, dass einfach alle Schüler in ein Klassenzimmer gesteckt werden. Davon profitieren würde niemand. Aber genauso profitieren wenige von Nervosität erweckenden Briefen am Ende der vierten Klasse, die den Rest unseren Lebens bestimmen. Kein anderes Land auf der Welt hat ein solches System,
und wer sich die letzte Pisa-Studie ansieht, merkt, dass es auch ohne moderne Schulsegregation funktionieren kann.

Es gab einmal eine Welt, in der jeder Mensch die gleichen Chancen hatte. Es kam darauf an, wer am meisten arbeitete, die besten Ideen hatte, und Zeit in wichtige Dinge investierte. Aber bei Geburt war jeder einzelne Mensch auf ein und denselben Level. Niemand galt als mehr oder weniger wert, und niemand wurde von seinem Hintergrund zurückgehalten. Was eine schöne Utopie. Aber auch das ist eben nur eine Utopie. Auch hier, in Deutschland.

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Autorin / Autor: Elisa Ela Arslan, 17 Jahre