Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Judith Maier, 18 Jahre
Es sind die Geräusche der Müllabfuhr, die die junge Frau am späten Vormittag aus dem Schlaf holen. Sie muss zurückdenken an eine Dokumentation über eine sogenannte Müllwerkerin, die sie vor nicht allzu langer Zeit angesehen hat.
Man sollte meinen, im 21. Jahrhundert wären Sorgen über Gleichberechtigung fehl am Platz, zumindest in den Industrieländern.
Aber nein, die Gesellschaft ist noch nicht so weit. Noch lange nicht, denkt sie.
In der Dokumentation konnte man das sehen.
Eine Frau bei der Müllabfuhr? Da haben einige ein Problem mit.
Eine Frau, umgeben von Müll? Nein, danke!
Eine Frau, die nicht einmal richtig anpacken kann? Brauchen wir nicht.
Auch das Mädchen hat schon ähnliches erlebt. Oft genug. Manchmal tagtäglich.
Sie arbeitet in der Gastronomie, als Kellnerin.
Nach zwei Gläsern Rotwein oder ein paar Bier werden die Gäste gesprächig.
Das kann nett sein, lustig und interessant.
Aber eben auch unheimlich anstrengend.
Einem Gast zu erklären, dass man jetzt nicht mit ihm einen Shot trinken kann oder einem anderen deutlich zu machen, dass er einen belästigt, und trotzdem freundlich bleiben, das kann einen ganz schön fertig machen.
Physisch, wie auch psychisch.
Sie hat sich schon daran gewöhnt, findet es aber schrecklich, dass das dennoch Teil ihres Alltags ist.
Und nein, denkt sie. Es sind nicht nur Männer, die sie nerven. Oder nur Menschen älterer Generationen.
Nein, es ist die ganze Bandbreite der Gesellschaft, die die Frau regelmäßig an ihr Limit bringen.
Es ist die ganze Bandbreite der Gesellschaft, die ihr das Gefühl gibt, sie lebe in einer fremden Welt.
Es müssen nicht alle immer die gleiche Meinung haben. Sie würde sich nur freuen, wenn jeder trotzdem seine Mitmenschen mit Respekt behandeln könnte.
Jeden seiner Mitmenschen, egal welches Geschlecht, welche Hautfarbe, Berufsgruppe oder welches Alter!
Das, denkt die junge Frau, wäre ein erster Schritt in Richtung gute Welt.
Wie jeden Morgen greift sie nun nach ihrem Handy, um ihre Sozialen Medien zu checken.
Zwei Nachrichten, ein paar Likes.
Sie scrollt durch ihren Feed. Dort findet sie hauptsächlich Bilder von Pflanzen, Interviews von Politikern und Bilder, die in verschiedener Hinsicht mit dem Klimawandel zusammenhängen.
Am erschreckendsten sind momentan die Feuer, die toten Wälder, die zerstörten Dörfer und die verbrannten Tiere.
Wenn sie solche Bilder sieht, ist sie froh, dass sie weit weg ist. In Sicherheit, mit ausreichend Distanz. Froh, dass sie das nicht erleben muss.
Aber sie weiß, dass diese Distanz gefährlich ist. Dass diese Distanz die Wirkung des Geschehenen abschwächt.
Mir könnte das nie passieren, denken die Leute.
Aber ist das wahr? Die junge Frau weiß, dass der Klimawandel jeden betrifft. Nicht nur die Bauern, die mit Dürren zu kämpfen haben oder ehemalige Bewohner von Küstenregionen, die ihr Zuhause an Stürme oder Hochwasser verloren haben.
Und selbst wenn man sich in Sicherheit fühlt, heißt das nicht, dass man sich darauf ausruhen sollte.
Das zumindest denkt die junge Frau.
Sie will etwas verändern! Will anderen helfen!
Wenn sie ehrlich zu sich ist, weiß sie, dass auch sie das nur tut, um sich selbst besser zu fühlen.
Aber ist das verwerflich?
Ist es verwerflich, Gutes zu tun, um sich selbst besser zu fühlen?
Nein, vermutlich nicht, denkt sie.
Immerhin macht es diese Welt zu einem besseren Ort.
Manchmal fragt das Mädchen sich, ob diese Welt eine bessere wäre, wenn alle so denken und so leben würden, wie sie.
So leben wie sie, heißt: mit Respekt, nicht nur vor den Mitmenschen, sondern auch vor allen anderen Lebewesen und der Natur.
Sie weiß, es ist fast unmöglich, zu leben, ohne irgendjemandem oder irgendetwas zu schaden.
Deshalb ist das Ziel der Frau nicht, keinen Schaden mehr anzurichten. Ihr Ziel ist es, diese Schäden so in ihr Bewusstsein zu rücken, dass sie sich automatisch minimieren.
Doch wenn das Mädchen die Gesellschaft beobachtet, denkt sie manchmal, sie sei die einzige mit dieser Ansicht.
Manchmal hat sie das Gefühl, dass sie in dieser Welt fehl am Platz ist.
Die junge Frau legt ihr Handy zur Seite und quält sich aus dem Bett. Die Müllabfuhr ist schon einige Straßen weiter, während sie sich für den Tag bereit macht.
Als sie aus der Haustür tritt, schlägt ihr ein Wall aus stickiger, heißer und dreckiger Luft entgegen. Sie holt ihr altes, klappriges Fahrrad aus der Garage.
Eines Tages, hofft sie, wird sie jemanden inspirieren.
Genauso, wie auch sie inspiriert wurde.
Inspiriert zu einem höheren Bewusstsein für ihr Handeln und dessen Folgen.
Und wenn sie eines Tages jemanden inspiriert, dann wird auch diese Person irgendwann jemand anderen inspirieren.
Wie ein Feuer. Nicht wegen sondern gegen den Klimawandel.
Und eines Tages wird alles gut, hofft sie.
Und vielleicht lebt sie eines Tages nicht mehr in einer fremden Welt.
Mit diesem Gedanken schwingt sie sich auf ihr Rad. An der Laterne links von ihr klebt ein schwarzer Sticker mit roter Schrift.
Chance is coming, whether you like it or not!
Vielleicht ist eines Tages gar nicht mehr so weit. Ein Lächeln huscht über das Gesicht der jungen Frau, als zwei Radfahrer mit ihren Einkäufen an ihr vorbeifahren.